Irgendwo in Almada

  • Kalter Nebel griff mit langen Spinnenfingern unter das weiße Gewand des Fuchses und da, wo die Hitze gewesen war, die der schnelle Lauf hügelan mit sich brachte, blieb nur noch der erbarmungslose Griff von Frost und Furcht. Hirsch lief neben ihr, Wolf schon ein Stück voran. Adler blieb in ihrer Nähe, umkreiste und beschützte sie. Sie mussten den Schrein erreichen. Nichts Anderes zählte noch. Dort würden sie sicher sein. Nur dort.


    Der Schatten stieg jäh aus dem Boden, jegliches weiße Winterlicht auf dem Pfad verschluckend, übermächtig und bedrohlich. Fuchs spürte, wie ihr Herz schmerzhaft zu rasen begann. Auch wenn sie ihn gespürt, ihn erwartet hatten, war sein Erscheinen ein Schock, der eine Woge der Panik durch ihren Körper sandte.


    Was tun? Sie besah sich die Hänge, den Weg. Zu steil, um sie zu nehmen. Unmöglich, jetzt zurückzuweichen. Sie mussten zum Schrein!


    Es war Hirsch, der zuerst eine Entscheidung fällte. Mit ausgebreiteten Armen stürmte er auf den Schatten zu, die Ärmel seiner weiten Robe flatterten, als er sich mit aller Kraft der Kreatur entgegenwarf, die sie so gnadenlos verfolgt und aufgespürt hatte. Es war der Anblick seines schmalen, zu allem entschlossenen Gesichts, der Fuchs begreifen ließ, was er da tat. Er opferte sich, damit sie Zeit gewannen. Sekunden nur, aber vielleicht würden diese für einige von ihnen reichen.


    Wolf zögerte nicht lange. Er war nie für langes Denken bekannt gewesen und er lief, so schnell, dass der Dreck von seinen Stiefel stob und seine Robe in schmutziges Braun tauchte. Auch Adler schwang sich davon, elegant, schnell, nicht zurückblickend.


    Nur Fuchs lief nicht. Sie konnte nicht. Keine Entschlossenheit der Welt konnte das Grauen des Moments beiseiteschieben, in dem das Schwert des Schattens, schartig vor boshafter Wut, in Hirschs Körper stieß, wieder und wieder, bis sein Leib zuckend in sich zusammensackte und das Leben mit einem Seufzen aus ihm fuhr.


    Dann lief Fuchs, doch sie wusste sofort, dass es zu spät war. Sie würde es nicht schaffen. Ihre Beine waren so kurz wie es ihr Atem war. Als das Schwert in ihren Rücken stieß, bäumte sich ihr Körper gegen den alles zerreißenden Schmerz auf, ließ sie vorwärts taumeln. Im Fallen hob sie die Arme, spürte, wie die Klinge erneut in sie stieß, kalt und erbarmungslos, versuchte zu atmen, doch Blut gurgelte ihre Kehle hinauf und erstickte jeden Laut.


    Der Boden kam näher und sie fiel mit dem Gesicht in den Schlamm. Das dämmrige Licht des Waldes wich der heraufziehenden Finsternis, die mit ihrer allumfassenden Kälte nach Fuchsens Seele griff. Sie hob in einer letzten Anstrengung den Kopf vom nassen und zerwühlten Boden und sah, wie auch Adler unter dem Hass des Schattens fiel, die kleine Gestalt zur Lumpenpuppe am Wegesrand verdammt. Nur Wolf lief noch; Wolf lief, wie er es immer tat. Er war schon kaum mehr zu sehen.


    ‚Er schafft es‘, dachte Fuchs. Ihre blutigen Lippen verzogen sich zu einem letzten Lächeln. Und dann war da gar nichts mehr.


    Alanis fuhr mit einem Schrei auf den Lippen vom Bett empor und starrte panisch ins Nichts. Eine Hand tastete über ihr schweißfeuchtes Nachthemd, um sich auf die blutenden Wunden zu pressen, die man ihr in den Leib getrieben hatte, bevor ihr auch nur bewusst werden konnte, was sie da tat. Erst als einige Atemzüge vergangen waren und sich kein Schmerz einstellte, begriff sie, dass sie unverletzt war. Der Traum hatte ihr noch einmal gezeigt, was sie erlebt und durchlitten hatte. Erinnerungen, die eigentlich nicht die ihren waren und nun doch so klar und rein in ihrer Seele ruhten wie ein Stück Glas, in dem sich das Licht spiegelte und das nicht übersehen werden konnte.


    Mit zittrigen Gliedern ließ sich die Geweihte auf die strohgefüllte Matratze zurückfallen und starrte in das matte Zwielicht, das durch das Fenster strömte. Es war schon Morgen und dichter Nebel waberte vor dem Fenster des Zimmers in dem kleinen Gasthaus, in dem sie auf ihrer Reise nach Norden untergekommen war, als das Wetter zu schlecht wurde, um ordentlich weiterzureisen. Die Grenzen Sternbachs hatte sie schon einige Tage hinter sich gelassen und dennoch gelang es ihr ganz offensichtlich nicht, das abzustreifen, was sie dort erfahren hatte.


    Alanis zog das warme und bequeme Federbett höher und rollte sich darunter ein. Vielleicht würde sie noch ein wenig schlafen können, wenn sie es versuchte. Für einen Moment hasste sie es, allein zu sein. Es wäre schön gewesen, die Ereignisse mit jemandem zu teilen; doch die Dinge waren nun einmal so, wie sie waren. Bisher hatte sie sich noch immer selbst einigermaßen durchgeschlagen, dieses Mal würde es nicht anders sein. Vielleicht war es sogar besser so. Wie sollte sie jemandem erklären, was sie getan hatte, ohne sich wie ein Stück Dreck fühlen zu müssen?


    Sie musste also lernen, wie sie mit jener Schuld umgehen konnte, die sie auf sich geladen hatte. Das hatte sie schon vorher getan und sie würde es auch wieder schaffen, ganz ohne Zweifel. Wie lange es dauern würde, wusste Alanis jedoch nicht. Man konnte schön umschreiben, was sie mit Zerbrochene Klinge getan hatte. Aber selbst die besten Worte konnten nicht verhehlen, was ihre Tat im Kern wirklich gewesen war.


    Sie hatte sie getötet.