„Wenn du es nicht wärst, wäre ich nicht hier!“
Sie richtet sich wieder auf, die Lippen nachdenklich zusammen gekniffen. Tief ein- und ausatmend, legt sie eine ihrer Hände an einen nahen Baumstamm und schließt kurz die Augen. Endúneath war nun schon lange Zeit auf dem Weg der Dei Ithil und das Am’anethra seine Meisterin war konnte sie mehr denn je spüren. Ihre beinahe Besessenheit, begründet in den Tiefen der Zeit und aus einer traurigen und tödlicher Notwendigkeit geboren, die Dei Ithil derartig zu unterrichten war legendär und brachte eine Generation Wächter hervor, die denen aus alten Tagen würdig gewesen wären. Doch zu welchem Preis? Endus Aufopferung war lobenswert in Hinsicht auf seinen Weg, sein Einsatz und Bereitschaft für ihr Volk unglaublich wertvoll. Doch hatten die meisten Wächter vor ihm die Zeit gehabt, anderes zu leben, anderen Dingen in ihrem Leben Prioritäten einzuräumen und auf die alte Weise zu lernen beides mit einander zu vereinen. Endu war zu jung dafür, der Krieg der über ihr Volk hereinbrach war zu grausam und verlangte zu viel von den Hên Meneldû und traf sie und ihren Cousin in den zarten Anfängen ihrer Ausbildungen. Fortan war nichts mehr wie es einst war und alte Lebensweisen und Pfade gerieten ins wankten und fielen in die Vergessenheit. Wie nur konnte Tíriêl, die ebenfalls erst anfing die ganzen kleinen Netze an Strukturen, die die Säulen ihres Volkes und deren Kultur festigten und zusammen hielten, zu verstehen und im Ganzen zu begreifen, diese jetzt Endúneath vermitteln?. Es war soviel mehr als nur Tradition die es zu bewahren galt - es war um ein vielfaches komplizierter.....
„Ich werde dich lehren, aber du wirst nicht mein Schüler sein, so wie du Momentan Am’Anethras bist! Du wirst mir zuhören, du wirst in dich hineinhorchen und du wirst Entscheidungen treffen. Die Prüfungen die danach folgen, denen wird dir kein Meister zur Seite stehen, Endu. Aber du wirst auch nicht alleine sein. Und du wirst weder deinem Volk noch den Dei Ithil entsagen müssen.“
Sie hatte sich wieder zu ihm umgedreht und ihn erneut mit ihrem Blick fixiert. Die Anstrengung die das alles von ihr abverlangten zeichneten sich zart in ihrer Gestik wieder.
„Endu, du musst vor allem verstehen! Du blickst zu starr auf den Weg der vor dir liegt, so dass du es versäumst deine Umgebung wahrzunehmen. Wer bin ich, dass ich dir so etwas aufzeigen muss?" Sie klingt unendlich traurig und die plötzliche Erkenntnis das ihr Cousin dabei war sich in den Tiefen des Wächterpfads zu verlieren schürte ihre Angst, ihm könnte das gleiche Schicksal blühen wie anderen Wächtern vor ihm, die versagt hatten.
„Ist deine Verbissenheit die Ausbildung der Dei Ithil zur Perfektion zu bringen derartig stark, das du vergessen hast auf was es letztendlich wirklich ankommt. Den Pfad mit Leidenschaft und Hingabe zu gehen heißt nicht, sich für ihn aufzugeben, im Gegenteil: ....darin Aufgehen mit allen Konsequenzen und dem Ziel ein Wächter dessen zu werden was man Ist, was man War, was wann Wird, was man Fürchtet und was man Liebt.... rezitiert Tíriêl eine Passage aus dem Kodex Am’anethras – ein Buch welches Endúneath mehr als Bekannt ist. „Es gibt viele Interpretationen dieser und anderer Zeilen. Am’Anethra lehrt euch sie zu lesen, sie zu verinnerlichen,sie zu leben! Oft unter Darbringung unglaublich hoher Opfer! Aber sie lehrt euch nicht das sture Befolgen von Befehlen ohne eigenes Denken – die bedingungslose Unterwerfung! Endu, ich bitte dich, das zeichnet die Dei Ithil doch nicht aus. Wir haben uns von diesem Denken vor sehr langer Zeit verabschiedet um aus dem dunkeln Matriarchat auszubrechen. Das es ohne gewisse Grenzen, ohne Gehorsam nicht geht – diese Lehre hat unser Volk mit Blut gezahlt. Doch ist es letztendlich die gesunde Mischung aus Ordnung und freiem Denken die uns soweit gebracht hat!“
Sie bricht ihren Monolog abrupt ab.
Das ist es, was die wahren Wächter lernen müssen, bevor sie in ihrer Aufgabe aufblühen und die Dunkle Seite ihres Daseins ins Mondlicht rücken können...
„Endu,…." flüstert sie sanft. „Wenn du sie aufrichtig liebst, hör auf darüber nach zu denken ob es richtig oder ob es falsch ist. Denk nicht als Wächter, denk als du! Jemanden zu lieben kann beflügelnd sein aber geliebt zu werden bringt dich in höhere Höhen als du jemals mit bloßem Auge zu sehen bekommen wirst. Diese Stärke die man dadurch geschenkt bekommt, ist wertvoller als die rohe Kraft deiner Muskeln oder die Schärfe deines Verstandes! Fang an zu lernen diese Erfahrungen mit den Lehren der Dei Ithil zu vereinen. Wenn du das begriffen hast, dann und erst dann gelangst du zur wahren Perfektion."
Ihre Stimme wird wieder etwas lauter und monotoner. Ihr Blick starr gerade ausgerichtet – ihre Gedanken in weiter Ferne.
„Es gibt in der Vergangenheit unsere Volkes Ereignisse, die ohne diese Gefühle niemals stattgefunden hätten, ohne die es keine Erfolge zu verzeichnen gäbe........die Schattenseite dieser Medaille ist allerdings ebenso ein Teil dieser Geschichten. Sei gewarnt. Wo Liebe ist, kann auch Hass erwachsen – wo Freude wohnt – zieht Neid und Gier mit ein. Wenn du jemandem erlaubst dich zu lieben, erlaubst du ihm gleichzeitig dich zu verletzten. Aber wenn du dich davor fürchtest verletzt zu werden, schließt du die Liebe aus und du wirst einsam und kalt werden. Es ist ein zweischneidiges Schwert, Endúneath, es gibt keinen guten Rat den man diesbezüglich erteilen kann.....es sind Erfahrungen die man selber machen muss, durch die man wächst.....oder an denen man zerbricht......den Pfad des Wächters ist wohl der schwierigste der damit in Einklang zu bringen ist. Ich kenne ihn, auch wenn ich ihn nicht begehe! Dennoch ist er ebenso mein Schicksal wie er das deine ist......doch das gehört jetzt nicht hierher!"
Sie verstummt wieder. Unfähig ihren Blick zu heben wartet sie ob Endúneath das gesagte verstand, wartet auf seine Fragen und auf den Zorn, den sie vielleicht durch das gesagte entfacht hatte.