Auf der Nordstraße 2

  • Wie jeden Abend in den letzten sechs Wochen ist Kassandra auch heute kurz vor Anbruch der Dämmerung auf der Nordstraße unterwegs.
    Die Torwachen haben sich mittlerweile an ihr abendliches Gehen und Kommen gewöhnt. Sie wären wohl die ersten, denen eine ausbleibende Rückkehr der Schankmaid auffiele.
    Mittlerweile findet Kassandra den täglichen Weg in den Wald und auch den nicht unbeträchtlichen Energieverbrauch, den das Aufstellen der Wälle bedeutet, nicht mehr anstrengend oder auch nur lästig. Es ist einfach ein Teil ihrer Routine geworden und oft genug ist sie gar nicht böse darum eine Pause von den kleingeistigen Eifersüchteleien einlegen zu können, die oft genug der Grund dafür sind, daß amonlondes Bevölkerung ihre Richter bemüht.
    Nur wenn, wie heute, der Wind schmelzenden Schnee in ihre Richtung treibt wünscht sich die Hüterin manchmal sie könnte einfach zuhause bleiben.
    Kassandra zieht den Mantel dichter um sich und duckt das Gesicht tief in den flauschigen Kaninchenpelzkragen.
    Sie ist spät dran, stellt sie fest als das Licht immer mehr schwindet. Die dicke Wolkendecke macht es schwer den Stand der Sonne auch nur zu erahnen.
    Es wird dunkel noch bevor sie den Rand des singenden Waldes erreicht und sie spürt, daß ihre Energiewälle fallen. Eine gewisse Erleichterung im Grundgefüge des Gefühls, das das Band zum singenden Wald ist. Als hätte ein Steinchen im Schuh mit einem Mal ein Loch in der Sohle gefunden und von jetzt auf gleich aufgehört zu drücken.
    Ob ihr Luftholen daraufhin ein Aufatmen oder ein Seufzer ist, das weiß sie selber nicht genau. Auch wenn die Wälle sie stören sind sie notwendig um das Potential des Baumes, für magisch begabte Personen problemlos wahrnehmbar, zu tarnen.
    Auch wenn sich in ihrem Wissen um sein Vorhandensein nichts ändert weiß sie, daß er jetzt "sichtbar" ist für jeden, der zufällig in seine Richtung "schaut".

  • Eine kurze Zeit ohne die Schutzwälle läßt sich leider nicht vermeiden; selbst wenn sie noch vor dem Untergang der Sonne am See ist und das Verblassen der pfeifenden, blinkenden oder wabernden Konstrukte aus Energiewall und eingewebtem Firlefanz selber beobachtet, braucht es eine gewisse Zeit bis sie die nachfolgenden sechs Wände errichtet hat und die Tarnung wieder aufgebaut ist.
    Ob es jemanden gibt, der all das beobachtet und sich über das kurze magische Leuchtfeuer aus dem singenden Wald wundert, fragt sie sich manchmal. Und wie das wohl aussieht? Oder, in ihrem Fall, sich anhört?
    Kurzentschlossen bleibt sie stehen. Ob der Baum jetzt ein paar Minuten länger magisch wahrnehmbar ist oder nicht macht keinen Unterschied, nicht wahr? Hörs dir an. Auf die Entfernung ist die Gefahr, daß du den Rest der Nacht ein Klingeln in den Ohren hast auch recht gering.
    Sie macht ein paar Schritte abseits des Weges und lehnt sich an ein Weidentor, das Gesicht der Richtung des Waldes zugewannt. Mit geschlossenen Augen beginnt sie zu summen.