[Khel'Anhor] widir'arc - der Dämmerwald

  • *Ich werde bei Morgengrauen gehen.*


    Genau so lässig lässt sich die Wächterin neben Shao'rai auf dem Ast nieder von dem man einen geradezu perfekten Ausblick auf den Steinkreis und das Innere hat.


    *Für deine Gefährtin wird es die dritte Prüfung sein, jene des Geistes*


    das Senden war halb fragend.

  • *Ja. Die Prüfung begann wohl in dem Moment, in dem sie ihren Gefährten verlor.*


    Ein Seufzen geht durch die Verbindung zwischen den beiden Frauen, doch äußerlich bleibt Shao'rais Gesicht, soweit man das im Dämmerlicht der Baumkrone sagen kann, unbewegt.


    *Sie hatten sich vor einigen Jahren erkannt. Seit seinem Tod ist sie - erstarrt. Wie Glas, wenn der Blitz in Sand eingeschlagen ist.*

  • Die Augen der Wächterin wurden kurz groß und das türkise in ihren Pupillen leuchtete auf. Dann biss sie sich auf die Lippen und presste sie anschließend zusammen.


    Shao'rai war vermutlich noch zu jung... aber auch sie sollte wissen, was es bedeutete dem Tod eines Erkenntnispartners ausgesetzt zu sein...insbesondere wenn man ihn liebte und nach der Vereinigung zusammenblieb.


    *Wenn das der Grund für ihre Prüfung ist... wird sie vermutlich in den Kreislauf übergehen und ihre Seele wandert zurück zu den westlichen Sternen.*

  • Und somit war es bei Ga'weija nicht Sensationslust, die so viele hier her kommen lies - neben dem was die Fenyar den Seldar erzählt hatten, sondern Abschiednnahme... denn nur wenige teilten die Hoffnung, dass jemand einen verlorenen Erkenntnispartner in Liebe überleben würde - ohne ein lebender Toter des Herzens zu werden.


    Tear lehnt sich mit dem Rücken an den Ast, der nach oben gewachsenen einen winzigen Teil der unteren Blattkronen ausmachte. Auf dem ersten Weltenbaum hatte Tasmia selbst gewohnt und den Sternenkindern zugesehen, den Uralten und den Zweitgeborenen... bis diese kämpften und den ersten der Yggdrasil töteten... das nun die Khel'anhor wie Früchte auf seinen Zweigen und Ästen herumsaßen... Tear seufzte und schlug den Gedanken nieder.


    *Ich bete für sie... das die Seldarine Ga'weija beistehen und ihr Herz stark genug sein werden lassen.*

  • *Sie war stets stark, in allem, was sie tat und tun wird. Sie war meine erste Prüfung, ich werde bei ihrer Letzten anwesend sein. Kreise schließen sich.*


    In Shao'rais Senden liegt noch immer wenig Gefühl, so wenig, dass man dahinter Vieles erahnen kann.


    *Ihr Fortgehen wird eine Erlösung sein.*

  • Tear fixiert die Rinde des Astes unter ihr und reibt die Fingerspitzen aneinander, ehe sie hinabblickt, um in weiter Ferne Ga'weija auszumachen.


    *Im Westen werden sie einander wiedersehen und wir werden sie in unseren Lieder besingen. Sie werden jagen und tanzen und den Gefilden Daynons ferne Schatten sein, die nur in der Nacht zu einem Stern werden, der sich unser erinnert.*

  • Shao'rai seufzt leise, ein Laut, der im Rauschen der Blätter untergeht. Das Gewitter, das am nachmittag noch schwerfeucht über dem Wald gelegen hatte, hatte nur ein wenig Sprühregen von seiner schweren Wolkenlast abgeworfen und war dann weitergezogen. Nun, mit Beginn der Nacht, war die Schwüle des Tages vergangen, doch die Tiere der Dunkelheit erwachten. Tausende Arten von Insekten und Vögeln erfüllten das Grün mit einem Konzert des Lebens, ein dichter Klangteppich, der hin und wieder abrupt stockte, wenn die letzten Angehörigen von Rudeln eintrafen oder Raubtieren umherzogen, um Beute zu machen.


    *Im Westen, wo der Sonnenschein
    der ewig Morgenröte gleicht
    und über endlos Silbermeer
    die Möwe im sanften Winde steigt
    da werden wir uns wiedersehen
    und unter Baumesarmen sacht
    den Kopf im Gras zur Ruhe legen.*


    Ihre Lippen zucken kurz ein wenig, sie scheint getröstet von dem, was sie rezitiert hat.

  • Das Lächeln, das Tear halb abgewendet und eher Shao'rais Nacken als ihrem Profil schenkte, war eine Mischung zwischen Zustimmung und Trauigkeit. Ga'weija Konzentration diente nicht nur der Vorbereitung auf die Prüfung, sie war das Vorbereiten auf einen Abschied.


    Trommeln begannen in der Dämmerung zu schlagen und in einige der anderen Prüflinge kam Bewegung. Sie sammelten sich zumeist nur mit Lendenschurzen und bemalt mit wilden Mustern in Erd-, Grün- und Blautönen zu einer Gruppe in der Nähe der Seldar, die keinen weniger beeindruckenden Eindruck machten. Der Anführer der Priester trug sein weißes Haar eingeflochten in das Geweih eines Hirsches, das auf seinem edlen und alterslosen Haupt wie eine Krone wirkte.


    Gestützt auf einen verzierten und von den Enchavar einer Steineiche abgerungenen Holzstab betrachtete er die Prüflinge ruhig und schweigend.


    *Die große Jagd... wir werden sehen wer zurückkehrt und wer sich dem Jäger des letzten Jahres stellt*


    Die Vibration in der Stimme der Wächterin verrät Aufregung und ja auch ein wenig Lust, mit den Prüflingen hinabzueilen und erneut zu laufen.

  • Man hört wie sich Rufe in die Trommeln mischen, fordernde Laute, die an Tiere erinnern und doch mehr sind. Sie sollen die Welpen anfeuern, ihnen Mut machen, ihre Herzen lauter schlagen lassen.


    Der Seldar tritt an jeden einzelnen heran und verwehrt somit auch jedem zumindest für einen kurzen Zeitraum die Sicht auf jenen einen, der oben nahe der Steintreppen im Kreis steht. Der Jäger des letzten Winters...


    Ein Mann mit braunem Haar, verfilzte und mit Knochenschmuck versehende Strähnen... er trägt so gut wie alle Zeichnungen absolvierter Prüfungen. Er wirkt jung aber das kann täuschen... glaubt man der Geschichte auf seiner Haut.


    Jene, die Shao'rais erste Prüfung war, würde sich ihm nur unter Umständen stellen. Kehrte sie von den Prüfungen des Waldes zurück, würde sie, wenn sie ihren Speer gegen ihn erhob, ein Eingeständnis machen... nämlich den Wunsch zu leben... sollte ihre Spitze gesenkt bleiben... hatte sie sich entschieden, nach der letzten Jagd... die letzte Reise anzutreten...


    Der lange Stab des Seldars erhob sich in die Luft... aus dem Nichts, entstand ein Blitz und jagte in den Himmel... Rasseln erklingen, die Trommeln nähern sich ihrem Höhepunkt... irgendwo in den Weiten des Waldes brüllt ein Raubtier auf... Tear weiß es besser... aber sie wird nichts sagen... ein jeder erhält sein eigenen Namen... nach seinen eigenen Ängsten...


    Die Prüflinge drehen sich um und beginnen zu laufen.... mit nicht mehr bekleidet als Lederfetzen und ihrer bevorzugten Waffe. Einige rennen nach Süden weg, andere nach Westen, aus dem Gedanken heraus, sich einem Troll zu stellen... sie werden überrascht sein.


    Ga'weija geht als letzte, langsamer, bedächtiger als die anderen, ehe sie in der Dunkelheit der angrenzenden Wälder verschwindet, liegt ein letzter Blick auf ihrem Rudel... dann ist auch sie verschwunden.


    Die Jagd hatte begonnen.