Das Waisenhaus

  • Frau Marte öffnete die Tür und sah erst die Wache an, dann huschte ihr Blick sofort weiter und scharfe, graue Augen hefteten sich auf die Besucherin.

    "Ich nehme an, Ihr wollt Schwester Johanna sprechen?",
    fragte sie die Wache, wartete dann aber tatsächlich nicht ab und rief zurück ins Haus. "Schwester, Ihr habt hohen Besuch!"


    Johanna, die nach einer Nacht unter drei warmen Decken, mit warmem Bier und Ingwertee schon wieder fast auf der Höhe war, trat wenige Augenblicke später auf die Schwelle. Ihre Nase war vom Schnupfen noch immer gerötet.


    Während Marte sich zurückzog, nickte Johanna erst der Wache zu, denn verneigte sie sich leicht vor ihrer Besucherin, sie freundlich musternd.


    "Guten Tag, hohe Dame. Was kann ich für Euch tun?"

  • Mara spiegelte Johannas Geste mit einer leichten Verneigung und einem freundlichen Lächeln.


    "Schwester Johanna, darf ich annehmen. Es ist mir eine Freude Euch kennenzulernen."


    sagte sie und trat heran.


    "Ich hoffe ich.. komme nicht ungelegen. Mein Anliegen hat keine allzu große Eile, so dass ich auch wann anders wiederkommen könnte, wenn es Euch besser passt."


    Die bewaffnete Frau trat von einem Fuß auf den anderen. In den Händen hielt sie einen Tontopf mit Deckel, der nicht ganz leicht zu sein schien.

  • Johanna machte eine einladende Geste in den Flur, der in die große Küche führte. Mit Blick auf die grauen Regenwolken, die sich den ganzen Tag über die Sonne lustiggemacht hatten, was das eine Selbstverständlichkeit.


    "Die Freude ist auf meiner Seite, hohe Dame. Ihr seid herzlich willkommen. Tretet doch bitte herein." Ihr Blick streifte den Topf.

  • "Ich danke Euch." sagte Mara-Katharina und trat ein. Sie nickte ihrer Wache zu, die ihr in kurzem Abstand folgte.


    "Wie es sich gehört, habe ich Euch ein Gastgeschenk gebracht." meinte Mara-Katharina und schmunzelte, was den Worten die Förmlichkeit nehmen mochte. "Und ich hoffe Euch und den Euren eine Freude damit machen zu können."


    Die Wache legte den Topf in die Armbeuge und hob den Deckel ein wenig an, so dass Johanna einen Blick hinein werfen konnte. Drinnen befand sich heller Honig, schätzungsweise zwei Kilo.

  • Johanna geleitete die beiden Frauen in die Küche, in der es heimelig warm war, da ein Feuer im Herd brannte. Auf dem Tisch standeb auf einem Stövchen eine große Kanne Tee und bislang nur eine Tasse, aus der es dampfte.


    "Vielen Dank für das Geschenk", sagte Johanna. herzlich Auch sie lächelte - was sie aber meistens tat. Nur nicht, wenn sie sich gerade mit Frau von Saarweilers Bruder stritt. "Aus dem Honig werden sich viele schöne Dinge machen lassen - nicht nur Honigbonbons. - Darf ich Euch eine Tasse Tee anbieten?"

  • "Oh, gerne." nickte Mara-Katharina.


    Neugierig schaute sie sich um und fühlte sich ein wenig an die Küche auf dem Anwesen erinnert, wo sie aufgewachsen war. Sie hatte viel Zeit in der Küche verbracht und neben dem Herd sitzend gelesen während der Koch in den Kesseln gerührt und Geschichten von früher erzählt hatte.


    "Darf ich..?" fragte sie und deutete auf einen Stuhl.

  • "Natürlich." Johanna trat an das große Regal, auf dem sich dutzende kleine Tontassen stapelten. Sie nahm zwei Tassen heraus, dann wanderte ihr Blick zu der Wache. "Stellt den Topf ruhig auf der Fensterbank ab", sagte sie freundlich. "Auch einen Tee?"


    Sie brachte die Tassen zum Tisch und füllte eine davon für die Dame, die sie vor Mara-Katharina abstellte. Ein kleines Honigfässchen - wie passend - schob sie ihr ebenfalls hinüber.


    "Habt Ihr Euch auch schon gut in Renascân eingelebt?", erkundigte sie sich dann bei ihrer hohen Besucherin.

  • Mara-Katharina nickte dankend und überlegte dann kurz während sie ein wenig Honig in den Tee träufelte.


    "Renascân ist sehr anders als zuhause. Es ist auf diese besondere Art unglaublich liebenswert und ich lerne hier viel Neues kennen. Jeder Tag hält eine neue Überraschung bereit und sei es nur, dass ein Händler eine neue Süßigkeit mitbringt. Und trotzdem vermisse ich manchmal die Hügel Scoriens. Ist das nicht seltsam?"


    Die Topfträgerin nickte bei der Frage und grinste glücklich. Dann stand sie unauffällig in einer Ecke und schaute sie betont desinteressiert am Gespräch der Frauen im Raum um.

  • Johanna brachte der Wächterin ihren Tee, dann goß sie sich selbst nach und nahm ebenfalls Honig. Sie setzte sich an den Tisch und nahm einen Schluck.


    Bei Mara-Katharinas Worten schmunzelte sie.


    "Das ist nicht seltsam. Hin und wieder, wenn ich morgens aufwache, dann meine ich noch, in meinem Kloster in Tremera zu sein und gleich von einer Mitschwester mit dem Gong aus dem Bett getrommelt zu werden." In ihren Augen blitzte es fröhlich. "Hier habe ich keinen Gong, aber dafür ganz viele Füße, die herumtrappeln."

  • Mara-Katharina schmunzelte.


    "Und diese Füße dulden es wohl kaum, dass Ihr allzulange Schlaf bekommt." stellte sie amüsiert fest.


    "Wie lange seid Ihr nun bereits hier, wenn ich fragen darf?"

  • "Nun sagen wir so - es ist nicht schlecht, dass ich von Natur aus wenig Schlaf brauche", gab die Priesterin amüsiert zurück und musste dann einen Moment überlegen.


    "Es sind inzwischen zweieinhalb Jahre", sagte sie dann und klang ein wenig verwundert im Angesicht der Tatsache, dass sie tatsächlich schon so lange in Renascân war. "Kaum zu glauben, wie die Zeit fliegt. Als ich herkam, hätte ich mir niemals träumen lassen, was ich alles sehen und lernen würde."

  • "Es ist nicht so, als sei hier nichts zu tun. Wenn man ein Waisenhaus zu leiten hat, kommt wohl kaum Langeweile auf und man hat keine Zeit der Sanduhr zuzusehen."


    sagte Mara-Katharina und schloß das Haus in einer Geste ein.


    "Allein Renascân ist für mich eine Wunderkiste, die unerschöpflich scheint. Wenn mein Bruder dann von der Welt dort draußen erzählt, verlässt mich manches Mal schon der Mut vor so viel Weite. Für mich dürfen es die neuen Erfahrungen gerne auch im Kleinen sein und die großen als Geschichten."


    Sie pustete vorsichtig über die heiße Oberfläche und nippte an dem Becher.


    "Konntet Ihr denn angesichts des bevorstehenden Festes einige eurer Schützlinge in ein Lehrverhältnis geben?"

  • Johanna neigte den Kopf.


    "Ich bin schon ein paar Male mit Delegationen gereist, weil es nie schadet, dass unsere Truppen bei all dem Krieg das Schöne nicht zu vergessen. Es gibt aber inzwischen drei Layapriester in Renascân, weswegen ich in Zukunft wohl wieder öfters hierbleiben werde."


    Sie nahm noch einen Schluck Tee und lehnte sich etwas entspannter zurück.


    "Was meine Schützlinge angeht, so verdienen sich einige wie jedes Jahr Geld damit, die Ausrüstung der Reisenden, die zum Fest wollen, zum Festplatz zu fahren. Seit ich hier bin, konnte ich schon acht Jungen und Mädchen in Lehren vermitteln, die anderen sind aber teilweise noch zu jung."

  • "Das ist eine beachtliche Anzahl, wenn man bedenkt wie kurz die Zeit ist. Wir können uns glücklich schätzen, dass in Renascân Arbeit nie rar ist und helfende Hände stets gesucht."


    Sie wollte nicht daran denken, dass es durchaus Gründe gab, die weniger glücklich waren, wieso diese Kinder einen derartigen Anfang im Leben hatten und diese Unterstützung benötigten.


    "Nun, das bringt mich auch zu meinem Anliegen. Ich bin nicht ganz uneigennützig hier, wie ich zugeben muss."


    Sie legte die Hände um den Becher und trank langsam einen Schluck.


    "Ich suche ein Mädchen. Als Novizin für den Orden."

  • "Es ist ein Laienorden zu Ehren der Herrin Akestera. Nur die wenigsten von uns sind Priester obwohl diese Möglichkeit jedem offen steht. Wir sammeln Wissen.
    Wir schreiben Bücher ab und machen Kunstwerke daraus. Es ist eine Art Lebensgemeinschaft zu Ehren der Herrin Akestera, die sich selbst erhält."


    Mara-Katharina lächelte sanft.


    "Die einzige Verpflichtung, die es gibt ist die, dass sie solange sie dem Orden angehört, keine eigenen weltlichen Reichtümer hat. Keiner wird sie halten, wenn sie einst gehen möchte. Dient jemand aus Zwang, so steht keine Hingabe dahinter und ohne Hingabe, können wir unser Tagwerk nicht tun.

  • Johanna hörte interessiert zu und das spiegelte sich auch in ihrem Gesicht wieder.


    "Einen günstigeres Erwachsenwerden als in den Armen einer kirchlichen Gemeinschaft kann es meiner Meinung nach nicht geben", erklärte sie schließlich mit einem feinen Lächeln. "Aber das ist meine eigene Erfahrung, ich mag möglicherweise voreingenommen sein."


    Sie überlegte einen Augenblick.


    "Warum ein Mädchen?"

  • "Weil es ein Orden für Frauen ist. Männer könnten..."


    Ein Thema, das Mara-Katharina scheinbar wenig behagte, denn eine feine Röte schlich sich auf ihre Wangen.


    "... Sie könnten die Arbeit des Ordens hemmen. Wenn Ihr versteht."


    Rasch lenkte sie das Thema wieder in eine Bahn, die ihr eher lag.


    "Einige der Schwestern sind Witwen, die ihre letzten Tage im Orden verbringen und Raum gegeben haben für die nächste Generation. Andere wiederum können oder wollen aus irgendwelchen Gründen nicht heiraten. Wieder andere tun einige Jahre ihren Dienst an der Herrin und verlassen den Orden dann wieder um die bereits arrangierte Hochzeit zu feiern. Die Meisten der Schwestern sind aus dem Adel oder doch zumindest wohlhabend.
    Dieses Mädchen wäre dort mein eigenes Mündel und das meiner Tante, die mich beauftragte, ebensolches zu tun."

  • Johann schmunzelte leicht und nahm die Aussage von Mara über Männer sehr interessiert zur Kenntnis.


    "Ich verstehe - wenngleich das in meinem Kloster nicht so gehandhabt wurde."


    Sie pflückte ein Taschentuch aus ihrer Gürteltasche und schneuzte sich dezent, von der Adeligen abgewandt. Dann steckte sie das Tuch zurück und kehrte zum Gespräch zurück.


    "Das ist in der Tat ein sehr großzügiges Angebot. Ich denke ich habe zwei Mädchen hier, die sich für den Orden interessieren könnten. Luisa und Girte sind zehn und elf Jahre alt, beide sind klug und wißbegierig und haben eine schöne Schrift. Für Girte hatte ich an eine Lehre bei einem Buchbinder gedacht, allerdings ist sie hin und wieder recht ungeduldig. Luisa ist sehr still und in sich gekehrt und ich hätte ein wenig die Befürchtung, dass sie auf den Vorschlag eingehen würde, wenn er von mir käme, um mir einen Gefallen zu tun."


    Sie machte eine Pause.


    "Habt Ihr Erfahrung mit Kinder?"

  • "Ein wenig, aber nicht übermäßig." sagte Mara-Katharina und schmunzelte "Die meisten finden mich wohl recht langweilig." meinte sie und zwinkerte Johanna zu nur um dann sofort wieder zu der üblichen Ruhe zurückzukehren.


    "Meine Aufgabe ist es, sie hier vorzubereiten. Das wird mindestens den Sommer dauern und im Winter mag ich niemandem die Überfahrt zumuten. Eine Entscheidung müsste demnach erst im Frühjahr nächsten Jahres getroffen werden. Aber es muss eine Entscheidung aus Überzeugung sein. Den beiden Mädchen muss klar sein, dass sie damit ein geliebtes Heim und geliebte Menschen lange Zeit nicht wiedersehen werden. Aber möglicherweise werden sie einen neuen Weg finden und als den ihren erkennen."