Das Waisenhaus

  • Marthe schien nicht gewillt zu sein, sich mit Halbsätzen bedrängen zu lassen. Keinen Meter wich sie von der Türschwelle zurück.


    "Schwören lasse is nicht meine Aufgabe und die Götter wissen allein, wer gut im Herzen is und wer nicht. Aber seit dem Artikel im Landboten treten die Kerle an Ehrwürden heran und werden unverschämt." Marthes Fuß begann auf dem Boden zu tappen. "Und das mögen wir gar nich gern."


    Über den Köpfen der beiden war just in diesem Moment Bänkerücken und Füßescharren zu hören und Stimmengewirr setzte ein. Es schienen nur Sekunden zu vergehen, bis es im Erdgeschoss vor Kindern wimmelte. Nun musste Marthe doch zu Seite weichen, denn die Waisen hatten allesamt ihre Mäntel an und strebten aus der Haustür in den Garten, an Mirav und der Haushälterin vorbei.


    Als Letzte kam schließlich Johanna zum Vorschein, in einen praktischen, dunklen Umhang gehüllt und den Kopf mit den dunklen, geflochtenen Zöpfen, die auf dem Hinterkopf zu einer Krone gesteckt waren, mit einem weichen Schleier sittsam umhüllt.


    "Guten Morgen", begrüßte sie Mirav und warf Marthe, die immer noch aussah wie sieben Tage Regenwetter, einen fragenden Blick zu.

  • Der Mann nickte der Priesterin zu


    "Guten Morgen, Schwester Johanna. Schön euch zu sehen. Aber bevor ich näher an euch herantrete...wenn ich euch zusichern würde, dass ich nicht unverschämt werde, dann würdet ihr mir sicherlich glauben, nicht wahr? Schließlich bin ich doch ein Ehrenmann, jaaahaaaaa. Und Ehrenmänner werden nicht unverschämt. Zu einer Dienerin der Herrin Laya natürlich erst recht nicht!"

  • Marthe wirkte wie eine Frau, die sich unversehens in eine kleine, graue Wolke aus Wut und Verwünschungen verwandeln konnte. Auf Johannas Wink jedoch entfernte sie sich zögerlich und trottete den hart gefrorenen, ehemals schlammigen Weg gen Stadt davon.


    Johanna ihrerseits wandte sich ihrem Besucher zu, musterte ihn kurz und lächelte dann schmal, aber nicht unamüsiert.


    "Die selige Jorinde schrieb in ihren erbaulichen Traktaten, dass die gute Tat immer mehr zählt als das gute Wort." Sie schenkte dem Besucher einen milden Seitenblick. "Kennen wir uns?"

  • Er nahm seine Kapuze ab und zu seinem Bart passende, zottlig-voluminöse Haare kamen zum Vorschein


    "Nein, nicht persönlich. Aber vielleicht habt ihr schon von mir gehört, wer weiß? Mein Name ist Mirav. Ich bin der Wirt der Taverne "Zur Flenndenden Flunder", in der Unterstadt."


    Er zeigte hangabwärts in Richtung Hafen


    "Und bevor die Frage aufkommt: Ich möchte keines der Kinder abkaufen, weil ich neues Schankpersonal brauche. Ihr könnt unbesorgt sein."

  • Johannas Stirn umwolkte sich kurz und klarte dann wieder auf. Das Lächeln blieb auf ihrem Gesicht.


    "Die Worte 'Kinder' und 'verkaufen' in einem Satz zu nennen löst bei den meisten meiner Brüder und Schwestern den Drang aus, den Bären in sich zu entdecken. Ich würde damit vorsichtig sein", erklärte sie freundlich, aber es war eine kleine Note aus Stein in ihrer Stimme, die nicht zu überhören war. "Was darf ich also für Euch tun?"

  • "Nichts. Ich bin es, der etwas tun darf. Ich weiß ja nicht, was ihr schon Gutes oder Schlechtes über meine Taverne gehört habt. Oder über meine Gäste. Aber ihr sagt ja selbst, die Taten zählen mehr als Worte."


    Er griff in seinen Mantel und hielt ihr ein kleines, bemaltes Kästchen hin


    "Das hier habe ich seit einiger Zeit auf dem Tresen stehen. Wer was übrig hat, wirft was rein. Ich denke, es ist an der Zeit, dass es mal geleert wird. So langsam ist's nämlich voll."

  • Johanna blinzelte verblüfft. Der Mann hatte es doch tatsächlich geschafft, sie zu überraschen. Ein kurzes, selbstironisches Grinsen legte sich auf ihre Lippen. Vorsichtig nahm sie das Kästchen an, ohne jedoch hinein zu schauen.


    "Vielen Dank. Ich gebe zu, dass ich mich bisher nicht getraut habe, die Flunder zu besuchen. Das letzte Mal, als ich auf dem Weg dorthin war, war erst einen Tag vorbei dieser Gardist zusammengeschlagen worden. Und dann fiel mir auch noch ein am hellichten Tag Betrunkener in den nicht vorhandenen Ausschnitt."

  • Die Schwere des Kästchens ließ darauf schließen, dass es wirklich gut gefüllt war. Mirav zuckte die Schultern


    "Ach, ich nehm's euch nicht übel. So mancher geht da nicht rein. Andere wiederum ganz gern. Ich gehöre eher zu denen, die ganz gern dort sind."


    Er grinste


    "Aber ich will euch nicht lange aufhalten. Ich werd' dann mal wieder."


    Er schaute auf das Kästchen in Johannas Hand


    "Äh....das Außenrum bräucht ich zurück. Bitte. Für wieder auf den Tresen."

  • "Berufsbedingt, hm?", witzelte Johanna und setzte dann hinzu: "Bruder Astos ist gerne bei Euch, wie ich gehört habe. Also führt Ihr sicherlich ein von der Herrin gesegnetes Haus."


    Hinter dem Haus schien sich derweil die Geräuschkulisse zu verdoppeln und Johanna wog unschlüssig das Kästchen in der Hand.


    "Wartet bitte einen kleinen Moment", bat sie und verschwand im Haus. Als sie wieder zurück kam, reichte sie Mirav das geleerte Kästchen und zudem ein kleines Medaillon, das eine Bärin darstellte. "Nagelt es an Eure Tür. Das ist ein Segen aus meiner Heimat. Und entschuldigt, wenn der Empfang ein wenig frostig war. Ich habe gestern Abend den dritten Bewerber um meine Hand in zwei Woche abgewiesen. Das war recht anstrengend."


    Ein götterergebenes Lächeln erschien auf Johannas Gesicht.

  • "Oh! Vielen Dank! Da sag' ich nicht nein!"


    Er nickte dankend und nahm das Medaillon und das Kästchen an sich


    "Ja, doch, Bruder Astos ist doch hin und wieder mal bei uns. Aber ein Betrunkener ist ihm noch nicht in den Ausschnitt gefallen. So viel ich weiß, zumindest."


    Er verstaute Medaillon und Kästchen unter seinem Mantel


    "Und die Bewerber, ja, also, davon hab' ich gehört. ich hätte da eine Idee: Schickt sie doch weiter zur Krämerei Tedenheim. Ich hab' gehört, dort ist man immer noch auf der Suche nach einem feschen Bräutigam."


    Er setzte seine Kapuze auf


    "Schönen Tag noch! Und grüßt mir...äh...ich kenne ihren Namen nicht. Mit dem Korb. Und ich war wirklich nicht unverschämt. Hoff ich."


    Noch einmal nickte er grinsend, dann drehte er sich um ging davon.

  • Gemessenen Schrittes ging Mara-Katharina den Weg zum Waisenhaus hinauf. Sie war in ein schlichtes, braunes Wollkleid gekleidet, auf dem man als Zier kleine silberne Muscheln aufgebracht hatte. Ein Mantel mit einem Fuchspelzkragen hielt den Wind ab, der wohl nur durch seine Heftigkeit so kalt war und Feuchtigkeit mit vom Meer brachte.


    Die beiden Mädchen, eins mit hellem Haar, die andere der dunklere Gegensatz, liefen einige Meter vor ihr.


    Mit schwerem Herzen war Mara-Katharina zu einer Entscheidung gekommen. Sie war richtig, aber nichtsdestotrotz schwer zu treffen gewesen. Mit einem warmen Lächeln betrachtete sie die beiden, die ihr ans Herz gewachsen waren.


    Die Mädchen warteten bis die Frau hinter ihnen heran gekommen war und klopften dann.

  • Ortwin war es, der die Tür öffnete. Er hatte seine Pfeife in den Mundwinkel geklemmt und als er sah, wer da stand, fiel ihm diese auch direkt vor Schreck aus dem Mundwinkel. Nur seinen guten Reflexen war es zu verdanken, dass sie in seiner mit Altersflecken gezeichneten Hand und nicht auf dem Boden landete.


    Rasch verneigte er sich, was bei einem alten Mann wie ihm sofort von einem leisen Knacken begleitet wurde.


    "Die Schwester is im Garten, ich hol se!", kündigte er hastig an und war schon halb um die Hausecke gelaufen, bis er merkte, dass er etwas vergessen hatte. "Geht doch..eh...bitte rein, hohe Dame. Die Küch is warm!"

  • Mara-Katharina lächelte schweigend und nickte. Mit den Mädchen trat sie durch die Tür und ging in die Küche, die sie bereits von ihrem früheren Besuch kannte.


    Sie nahm ihren Mantel ab, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.


    "Wir sind für heute fertig, Mädchen. Tut... was immer ihr so tut."


    Überrascht stellte sie fest, dass sie über den Alltag der Kinder so wenig wusste.

  • Luisa schenkte Mara-Katharina ein weiches, leicht verunsichertes Lächeln und huschte dann aus dem Raum. Grit, die Mutigere von den beiden, blieb einen kleinen Moment länger.


    "Die sind alle im Garten", mutmaßte sie ein wenig altklug. "Die ernten grad den Feldsalat."


    Dann sauste auch sie davon und wenig später kam dann auch Schwester Johanna in die Küche, die eine Schürze über dem leuchtend gelben Rock trug und gegen die Kälte mit einem weißen Schal bis fast über die Nase eingehüllt war. Rosa angelaufene Finger, Nase und Wangen sprachen davon, dass sie wohl schon etwas länger im Garten beschäftigt gewesen war.


    "Guten Tag hohe Dame", sagte sie freundlich, als sie den Schal abgewickelt hatte. "Darf es ein Tee sein? Schwarz oder mit Früchten?"

  • Die große Frau rieb die kalten Hände aneinander und lächelte dankbar.


    "Gerne, Schwester Johanna. Schwarz mit ein wenig Milch, wenn das geht."


    Nach einer kurzen Pause


    "Ich werde Euch nicht allzu lange von Eurem Tun abhalten, Schwester. Da sind nur.. einige Dinge, die nicht viel länger Aufschub dulden."

  • Johanna nickte leicht.


    "Ja, das habe ich mir schon gedacht." Sie ging durch die Küche und legte die Hand an den Wasserkessel, der über dem Feuer hing. Rasch legte sie noch zwei Scheite Holz auf, um das Feuer anzutreiben, dann holte sie zwei Tassen samt Löffel aus dem zugehörigen Regal, befüllte die Kanne mit Teeblättern und entzündete eine kleine Kerze in einem Stövchen.


    Milch und Honig holte sie aus dem Kühlkasten heran. Als es dann vernehmlich aus dem Kessel dampfte, goss sie den Tee auf und kehrte schließlich zum Tisch zurück, wo sie den Schürze abnahm und über die Stuhllehne legte, um selbst Platz zu nehmen.


    "Die Mädchen freuen sich noch immer beide sehr darüber, dass Ihr Ihnen die Möglichkeit gegeben habt, mehr zu lernen, als wir ihnen hier vermutlich beibringen könnten. Ganz gleich, für wen es nun weitergehen wird."

  • "Aber eine gewisse Enttäuschung wird kommen. Dankbarkeit hin oder her. Und ich verstehe das."


    Sie lächelte ein wenig bekümmert und faltete die Hände auf der Tischplatte.


    "Es soll Grit sein. Zunächst."


    sagte sie dann und fuhr auch sogleich fort, als müsse sie eine Bürde loswerden.


    "Sie wird aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen und wird sich völlig neu zurechtfinden müssen. Ein neues Heim. Eine neue... Familie. Es ist in der Tat nicht das handwerkliche Können, das mich dazu veranlasst hat, so zu denken. Luisa ist in dem was sie tut bemerkenswert. Sie lernt schnell, arbeitet gewissenhaft.


    Es mag seltsam klingen, aber ich habe den Eindruck, dass Luisa diese Welt mit wesentlich wacheren Augen sieht als Grit."


    Mara-Katharina schaute nachdenklich auf ihre Hände.


    "Es wäre falsch sie an einen Ort zu binden und ihr damit zu verwehren, diese Gabe zu nutzen."


    Sie hob den Blick und sah Johanna in die Augen.


    "Versteht Ihr was ich meine?"

  • Johanna hörte aufmerksam zu und hielt den Blick ihrer grauen Augen unverwandt auf die Adelige gerichtet. Als Mara-Katharina geendet hatte, nickte die Layapriesterin ihr aufmunternd zu.


    "Die Weisheit Eurer Entscheidung wird die Herrin Akestera sehr erfreuen", sagte sie schlicht und goss dann in aller Seelenruhe den Tee ein. "Und sorgt Euch nicht - Luisa wird ihren Weg machen."

  • "Es bleibt zu hoffen, dass es nicht nur mein Wunsch war sondern wirklich Weisheit. Mit Kindern habe ich keine große Erfahrung, Schwester Johanna."


    Sie machte eine kurze Pause, ließ ihren Blick durch den Raum gleiten und versicherte sich wohl, dass sie unter vier Augen sprachen.


    "Sprecht bitte frei heraus: Glaubt Ihr, dass ich zu viel in diesem Mädchen sehe? In Luisa?"

  • Johanna schüttelte leicht den Kopf und sie schmunzelte.


    "Nein, Ihr seht schon sehr klar. Luisa hat zwei Richtungen, in die sie sich entwickeln kann - sie kann gut, sehr gut in einem geschützten Umfeld werden, das Ihr ihr geboten hättet. Das wäre der leichte Weg gewesen."


    Sie gab Honig in ihren Tee und rührte löffelklingelnd um.


    "Aber noch besser ist es, wenn man ihr noch zwei, drei Jahre Zeit gibt, um die Welt und das, was von dieser Welt hier in Renascân ankommt, zu sehen. Dann wird sie einmal ein bemerkenswerter Mensch werden."