In einer Hafenstadt

  • Dies hier ging voraus...


    Kapitel 1


    Vom Regen in die Traufe


    Gut, sie war schon in brenzligere Situationen geraten. Große Schlachten, die auf Messers Schneide ausgegangen waren. Diverse fiese Verletzungen, die sie nur um Haares Breite überlebt hatte. Aber von Piraten in einer Hafenstadt ausgesetzt zu werden, in der man sie dann in die Gosse stieß, ihr Geld stahl und das silberne Amulett, das sie jeden Tag in den vergangenen 5 Jahren getragen hatte – das war definitiv zu viel des Guten.


    Alanis saß am Hafen auf einer Kiste, die durchdringend nach Fisch roch und kochte vor Wut. Ihre grünen Augen hefteten sich auf den Horizont, an dem sie Sonne unterging und hätte sie die Möglichkeit gehabt, Schiffe allein mit Blicken zu versenken, dann wäre wohl weit draußen eine stattlichen Dreimastbark zu den Fischen gegangen. Da sie aber nur eine kleine Heilerin und Priesterin war, hatte sie diese Macht natürlich nicht.
    Mit einem Seufzen tastete sie nach ihrem Nacken, in dem eine stattliche Beule schwoll. Eigentlich hatte sie am vergangenen Abend in einem Wirtshaus Essen und Unterkunft finden wollen. Als sie ein kleiner Junge darum gebeten hatte, seiner Mutter zu helfen, die angeblich in einer Gasse nahe des Hauses in den Wehen lag, hatte sie nicht lange gezögert und war dem Kleinen nach draußen gefolgt. Was dann folgte, daran erinnerte sie sich nur noch schemenhaft, denn sie hatte einen kräftigen Schlag abbekommen und war wenig später in der Ecke, in die das Wirtshaus seinen Müll entsorgte, wieder zu Bewusstsein gekommen. Ohne Geldbeutel, ohne ihr Amulett und mit großer Wut im Bauch.


    Um den Wirt, dem sie eine Mahlzeit und eine gebuchte Übernachtung schuldete, die sie nunmehr nicht mehr bezahlen konnte, zufrieden zu stellen, hatte sie ihm ihren Rückenkorb als Pfand hinterlassen. Jetzt, tags drauf, hatte sie also nichts mehr in der Hand, das sie irgendwie weiterbringen würde. Und die Nacht brach herein. Zeit, eine Lösung zu finden.


    Sie erhob sich, zog ihren Mantel enger um die Schultern und fröstelte. Dann machte sie sich daran, die Straßen der Stadt zu durchwandern. Der Geruch nach Fisch, salziger Luft und Verfall war allerorts wahrnehmbar. Direkt am Hafen gab es sich in unterschiedlichen Stadien des Verfalls befindliche Lagerhäuser und einige wenige Bordelle und Wirtshäuser. Je weiter es in’s Landesinnere ging, desto sauberer wurden die Straßen, an einigen Stellen waren sie sogar gepflastert. Hier hatten sich die begüterten Kaufleute und Handwerker niedergelassen, die sich kleine Fachwerkhäuser leisten konnten, die sich dicht aneinander drängten. Aus einer offenen Garküche drangen herzhafte Gerüche zu der Priesterin hinüber und sie legte eine Hand auf ihren Bauch, in dem es verlangend grummelte. Im Schatten der Stadtmauer, die die große Siedlung vom waldigen Hinterland abgrenzte, ließ sie sich auf der durch zahlreiche Füße abgenutzten Treppe nieder, die zum Wehrgang hinaufführte.


    Inzwischen war es fast dunkel und in den Häusern flammte hinter Butzenscheiben der Lichtschein entzündeter Lampen auf. Alanis sehnte sich nach der Wärme einer festen Unterkunft, doch wo kein Geld war, gab es diesen Luxus nicht. Sie streckte ihre kalten Knochen, bis sie knackten und stand wieder auf. Just in jenem Moment gellte der Ruf „Haltet den Dieb!“ gedämpft zu Alanis hinüber. Eine Haustür hatte sich geöffnet und zwei Gestalten stoben heraus. Eine, klein und wendig und mit etwas unter dem Arm, das in der Dämmerung wie eine Kiste aussah, gab sofort Fersengeld. Und eine andere Gestalt, massig, berockt und mit einem Nudelholz bewaffnet, eilte sofort hinterher. Die fette Hausfrau jagte dem kleinen Jungen einige Schritte hinterher, musste dann jedoch keuchend aufgeben. Alanis blinzelte verdutzt, dann bewegten sich ihre Beine schneller als ihr Gedanken. War das nicht die kleine Ratte -?


    Die Priesterin lief los und dem jungen Dieb hinterher. Rücksichtslos drängte sie sich an der fetten Frau vorbei, die mit ihren Ausmaßen fast die ganze Gasse einnahm und hörte noch, wie die ihr einige unflätige Bemerkungen nachrief, bevor sie um die nächste Ecke bog. Bereits nach kurzer Zeit keuchte auch die Priesterin merklich. Das gute Leben der vergangenen Monate hatte nicht nur Spuren an ihren Hüften hinterlassen, aber sie biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich darauf, den wieselflinken Dieb einzuholen, der mittlerweile einen beträchtlichen Vorsprung hatte und offenkundig in’s Hafenviertel zurücklief. Endlich fand die Jagd ein Ende und der Dieb verschwand in einem der verfallenen Lagerhäuser. Alanis hielt Abstand, zum einen, weil sie nach Luft schnappen musste und zum anderen, weil sie nicht blindlings hinterherstürmen wollte. Immerhin hatte der kleine Kerl sie schon einmal getäuscht. Als sich eine ganze Weile nichts getan hatte, fasste sie sich schließlich ein Herz und schlich auf das Lagerhaus zu.


    Die dunkle Gestalt, die im Schatten neben dem Haus gelauert hatte, hatte sie jedoch übersehen. Alanis wollte schreien, als sich auf einmal ein starker Arm um ihre Hüften legte und sie in die Schatten zog. Aber eine zweite Hand legte sich unbarmherzig über ihren Mund und ganz gleich, wie sehr die Priesterin zappelte und um sich trat, der Griff löste sich nicht. Schließlich musste sie sich eingestehen, dass sie wieder einmal mächtig in der Tinte saß.

  • Kapitel 2


    Die guten alten Zeiten


    Alanis versuchte, mit den Zähnen nach der Hand zu schnappen, die sich über ihren Mund gelegt hatte. Leider war ihr kein Erfolg beschieden und sie erstarrte, als ihr Entführer plötzlich die Hand von ihrem Bauch löste, um sie über ihre Hüfte gleiten zu lassen. Tausend panikerfüllte Gedanken schossen ihr durch den Kopf und alle beschäftigten sich damit, was nun folgen würde. Mit einem hatte sie jedoch nicht gerechnet – dass ein seidenweiche, anzügliche Männerstimme neben ihrem Ohr sagte:


    „Du hast ein bisschen zugenommen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, Liebes.“ Die Priesterin blinzelte verblüfft, die Erkenntnis, wer da hinter ihr stand, erlöste sie endgültig aus ihrer Erstarrung. Sich mit einem kräftigen Ruck losmachend, fuhr sie auf dem Absatz herum und versenkte in einer schon oft geübten Geste ihr Knie zwischen den Beinen des Angreifers. Die vom schwummrigen Licht nur unzureichend beleuchteten Züge des Mannes wandelten sich von amüsierter Anzüglichkeit in blankes Entsetzen. Dann sackte er mit einem Ächzen in die Knie, mit den Händen an die Stelle fahrend, die er für irreparabel beschädigt halten musste. „Begrüßt man so einen alten Freund?“, quetschte er hervor. Alanis grinst kurz und humorlos und platzierte einen rechten Schwinger direkt an seinem kantigen Kinn, was ihn endgültig zur Seite kippen ließ.


    Schweigen kehrte in der dunklen Gasse ein, das noch schwerer wogt als das durchdringende Aroma von Moder und Abfällen. Alanis schüttelte ihre schmerzende Faust aus und fluchte leise und ausgiebig vor sich hin. Das hatte wehgetan, aber hoffentlich ihm mehr als ihr.


    „Wir waren eine ganze Menge, Liam, aber Freunde waren wir wohl nie“, fauchte sie. Liam rappelte sich unterdes wieder auf, sein Kinn betastend. Mit seiner Präsenz gelang es ihm mühelos, die gesamte Gasse winzig erscheinen zu lassen. Obwohl er auf die vierzig zuging, war seine Gestalt noch immer so eindrucksvoll wie vor dreizehn Jahre, die Schultern breit, die Hüften schmal und -. Alanis hob den Blick von der Stelle, an der sie vor einer Minute noch willentlich Schaden angerichtet hatte und spürte ärgerlich, wie sie errötete.


    „Teufel, Du hast immer noch einen festen Schlag, Kleine“, gab er zu und grinste breit, was sie in der Düsternis ihres Verstecks nur erahnen konnte. „Wie wär’s mit einem Dankschön, weil ich Dich vor einem großen Fehler gerettet habe?“


    „Gerettet? Du hast mich betatscht und mich glauben lassen, ich würde gleich vergewaltigt werden. Ja, vielen Dank auch!“ Alanis bemühte sich, den Schreck zu verdauen, indem sie ihn in Ironie umwandelte. Ihre Knie zitterten immer noch. „Was für einen Fehler meinst Du?“


    Liam streifte sich indessen den Dreck von Mantel und Hosen und strich sich die langen, dunklen Haare aus dem Gesicht. Seine heitere Miene wurde undeutbar.


    „Den Fehler, einfach so in ein Diebesnest hineinzuspazieren. Du hast keine Ahnung, mit wem Du Dich anlegst, oder?“


    Alanis schüttelte den Kopf.


    „Nein, weiß ich nicht. Aber sie haben mir etwas sehr Wertvolles gestohlen und ich muss es wiederhaben.“


    Liam lachte leise.


    „Und, was ist es? Ein hübscher Unterrock oder ein paar Schuhe ohne Loch?“


    Alanis knirschte mit den Zähnen, doch ihre Stimme klang dann erstaunlich ruhig, als sie ihm nach einem Moment des Zögerns doch eine Antwort gab.


    „Nein. Und auch wenn es Dich gar nichts angeht: ein heiliges Amulett, das meinen Priesterstand anzeigt. Nicht mehr und nicht weniger.“ Schweigen. Dann fing Liam an zu lachen, ein volltönendes Geräusch, in dem das unverkennbar männliche Timbre so anziehend war wie das Schnurren eines rolligen Katers, der Nachts durch die Hinterhöfe schlich. Er lachte immer noch, als er Alanis an der Hand nahm und durch die Gasse fort von dem Lagerhaus führte. Die Priesterin stolperte ihm hinterher, zornig, verunsichert, aber aus irgendeinem Grund nicht fähig, sich von ihm zu lösen. Irgendwann jedoch, sie waren wieder am Hafen und vor einer hell erleuchteten Taverne angelangt, riss sie sich los und blieb stehen, verstockt die Arme vor der Brust verschränkend. Er wandte sich ihr zu und zog fragend eine Augenbraue nach oben. Seine blauen Augen, in die sie sich vor dreizehn Jahren bis über beide Ohren verliebt hatte, funkelten amüsiert in seinem wettergegerbten Gesicht. „Hör auf zu lachen! Was ist so lustig?“, schnappte Alanis und versuchte, in dem rhythmischen Geräusch der Wellen, die an den Kai schwappten, ein wenig Beruhigung zu finden. Normalerweise gelang es ihr recht gut, im Einklang mit dem Wasser ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Doch dieses Mal war es einfach zu viel, was auf sie einstürmte.


    „Dass ausgerechnet Du Priesterin bist. So eine richtige, kleine, verstockte Fanatikerin, die garantiert keinen Mann mehr zwischen ihre hübschen Beine lässt? Das Leben ist so ironisch!“


    Die Antwort, die er bekam, hatte fünf Finger und hinterließ einen roten Abdruck auf seiner Wange.

  • Kapitel 3


    Das geringste Übel


    Das Ende der körperlichen Auseinandersetzung war schließlich eingetreten, als sich Liam Alanis kurzerhand über die Schulter geworfen und sie vom Präsentierteller vor der Taverne weggetragen hatte, unter dem Grölen und dem Beifall einiger Betrunkener, denen sie auf dem Weg begegnet waren.


    Nun saßen sie sich in Liams Unterschlupf an einem kleinen, wurmstichigen Tisch gegenüber und sahen sich an. Der große Mann hatte den obersten Stock eines der Lagerhäuser für sich zur Wohnung umfunktioniert, und das absolute Chaos dort wies darauf hin, dass er einen Junggesellenhaushalt führte. Es gab nicht viele Möbel. Einige Truhen und ein großen Schrank mit Türflügeln, die mit wunderschönen Schnitzereien verziert waren, ein unordentliches Bett mit zerwühlten Laken in der Ecke und eben der Tisch, an dem sie saßen, Alanis auf dem einzigen Stuhl, Liam auf einem wackeligen Hocker. Auch die Gläser, in denen sie sich die Flasche Wein teilten, die Liam in den Tiefen des Schrankes gefunden hatte, passten nicht zueinander. Alanis entging jedoch nicht, dass es Kristallglas war und sie ziemlich teuer gewesen sein mussten, so er sie denn redlich erworben haben sollte. Ein Kerzenleuchter mit weißen Wachskerzen spendete hellgelbes, angenehmes Licht. Liam hatte seine schmutzige Jacke abgelegt und saß nun im bloßen Hemd vor ihr, ein Bein lässig über das andere gelegt, das Weinglas in der Hand.


    „Gut“, sagte Alanis feindselig, nachdem auch sie ihr erstes Glas rubinroten Weins in sich hineingeschüttet hatte. „Du kannst mich wieder losbinden. Ich verspreche, Dich nicht mehr zu schlagen.“


    Das hatte sie den gesamten Weg vom Hafen bis in sein Heim getan. Lediglich der Leberhaken, den sie ihm versetzt hatte, hatte ihn kurz zusammenzucken lassen. Als sie angekommen waren, hatte er sie kurzerhand mit seinen Krawattentüchern an den Stuhl gefesselt und auch ihre Hände zusammengebunden. Und das hatte sie dann doch verstummen lassen. Sie bemühte sich nicht, zu zeigen, wie beunruhigt sie war.


    „Wirklich, Liebes?“, fragte ihr Gegenüber schmunzelnd und trank einen Schluck Wein. „Priesterinnenehrenwort?“


    Alanis ließ den Kopf hängen. Sie war müde, sie hatte Hunger und sie war die Auseinandersetzung leid. Ihre Schultern sackten herab.


    „Ja, Priesterinnenehrenwort. Was auch immer“, murmelte sie und zu ihrer großen Überraschung erhob er sich, um sie zu erlösen. Als das Blut in ihren Armen wieder zu zirkulieren begann, rieb sie sich die Handgelenke und lehnte sich mit einem Seufzen zurück. Liam nahm ihr gegenüber wieder Platz.


    „Was also soll ich jetzt mit Dir machen?“, fragte er ihm Ton eines Mannes, der mit einem kleinen Mädchen sprach. Alanis verzog kurz den Mund, sagte aber nichts. „Ein heiliges Amulett, ja? Wer hat es Dir gestohlen?“


    Alanis beschrieb ihm den kleinen Jungen und Liam nickte sackte, während seine langen Finger den Rhythmus einer nur ihm bekannten Melodie auf der Tischplatte klopften. Alanis betrachtete ihn für einen Moment und stellte fest, dass seine Haare an den Schläfen grau geworden waren. Das Leben hatte sich in seinem Gesicht in einigen Falten niedergeschlagen, dennoch war er noch immer ein atemberaubend attraktiver Mann. Das Mädchen in ihr, das sie einmal gewesen war, spürte wieder ein altbekanntes Flattern in der Magengrube, doch die Frau in ihr wies es scharf zurecht. Das Flattern verstummte.


    „Es ist ein vierendiger Knoten, in sich verschlungen“, erklärte Alanis und malte das Symbol mit dem Finger in die Luft. Ein kurzes Zögern, dann riet sie, schon wissend, dass sie ins Schwarze treffen würde: „Du weißt, von welchem Jungen ich rede, oder? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es in einer Stadt, in der Du lebst, irgendeine illegale Aktivität gibt, von der Du nichts weißt.“


    Ein dünnes Lächeln breitete sich auf seinen Zügen aus.


    „So also denkst Du über mich, Liebes?“


    Alanis verzog abfällig den Mund, als er den bereits von ihm stark strapazierten und damit arg entweihten Kosenamen benutzte.


    „Du hast Menschen schon immer betrogen und benutzt“, gab sie schnippisch zurück. Liam zog spöttisch eine Augenbraue hoch.


    „Ah, und Du hast mich damals nicht benutzt, als Du mit mir geschlafen hast, um Deinem Vater eine auszuwischen?“


    Alanis besaß den Anstand zu erröten.


    „Das ist etwas anderes“, wiegelte sie ab und verschränkte wieder die Arme, einen Moment später erkennend, dass es eine Geste war, mit der sie ihre Defensive klar zugab. Er lachte auf, wieder einmal, in spöttischem Amüsement.


    „Nun, lassen wir die guten alten Zeiten einmal ruhen, Alanis. Da Du mich für so einen Schurken hältst, sollte Dir klar sein, dass ich Deine Situation natürlich nun mit Freuden ausnutzen werde.“ Er legte die Fingerspitzen zusammen und maß sie mit einem langen Blick. „Also, was bekomme ich von Dir, wenn ich Dir das Amulett zurückbringe?“


    Alanis schluckte trocken. Das Aroma des teuren Weins schmeckt auf einmal gallig in ihrer Kehle. Sie erkannte, dass sie nicht viele Möglichkeiten hatte. Eigentlich so gut wie gar keine. Das Amulett war das Einzige, was sie noch mit ihrem Meister El Gar verband. Sie musste es wiederhaben, ganz gleich, was sie dafür tun musste. Aber konnte sie Liam trauen? Er war immer ein Schurke gewesen, ein Kompagnon ihres Vaters, ein Dieb und Gauner. Aber ein Lügner – nein, das war er eigentlich nie gewesen.


    „Was Du willst.“ Ihre Stimme klang seltsam brüchig, doch sie bemühte sich, den durchdringenden Blick, mit dem er sie maß, standzuhalten. „Priesterinnenehrenwort.“


    Liam lächelte sardonisch.


    „Na dann, meine Liebe.“ Er stand auf und deutete eine spöttische Verbeugung an. „Ab in’s Bett.“

  • Kapitel 4


    Grabenkämpfe


    Alanis erwachte am nächsten Morgen von dem Geräusch von Regen, der auf das Dach des Lagerhauses fiel. Noch im Halbschlaf, streckte sie sich, bis die Gelenke knackten und schlug dann die Augen auf. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo sie war und setzte sich dann abrupt auf. Sie war allein.


    Mit angesäuerter Miene stieg sie aus dem Bett, sammelte ihre Kleidung ein, die noch auf dem Boden verteilt lag und zog sich an. Dann trat sie zum Fenster, um hinauszusehen. Der graue Himmel, der es unmöglich machte zu schätzen, wie spät es war, passte haargenau zu ihrer Stimmung.
    Es gefiel ihr nicht, dass sie auf jemanden angewiesen war, den sie weder leiden noch einschätzen konnte und als sich schließlich Schritte über die Stiege näherten, die vom Erdgeschoss in Liams Behausung führte, überlegte sie kurz, dem Besucher, wer immer es sein mochte, die leere Weinflasche in‘s Gesicht zu werfen, wenn sich die Tür öffnete. Doch sie entschied sich dagegen, lehnte sich stattdessen mit der Hüfte an die Fensterbrüstung und wartete.


    Tatsächlich war der Blick, den Liam in das große Zimmer warf, zunächst recht vorsichtig. Er schien zu ahnen, dass ihn Alanis Zorn treffen könnte und wirkte fast ein wenig erleichtert, dass dem nicht so war. Mit einem nochchalanten Lächeln schlenderte er zu ihr. Irgendwann während seiner Abwesenheit hatte er offenkundig ein Bad genommen und sich etwas Frisches angezogen. Allerdings ging ein derart penetranter Geruch nach billigem Parfum von ihm aus, dass Alanis sich sicher war, dass er sein Bad nicht in der Art von Badehaus genommen hatte, in der es lediglich Seife, Wasser und Wannen gab.


    „Gut geschlafen?“, fragte er freundlich und tatsächlich einmal ohne jegliche Art von Spott. Alanis zog kurz die Augenbrauen zusammen.


    „Sehr gut, danke“, gab sie nach einem Moment des Zögerns zurück. „Hast Du mein Amulett?“


    Er schüttelte den Kopf.


    „Tagsüber spaziere ich da nicht rein, Liebes. Da falle ich auf wie ein bunter Hund. Heute Abend mache ich mich auf den Weg und schaue, dass ich das gute Stück zurückbekomme.“


    „Und weswegen ging das nicht schon letzte Nacht?“, erkundigte sich die Priesterin ungnädig. Liams Blicke wurde anzüglich.


    „Da hatte ich etwas Besseres zu tun.“


    Alanis ignorierte die Anspielung.


    „Ich komme heute Abend mit“, informierte sie ihn kühl. „Wer sagt mir, dass Du mir das Amulett dann gibst und nicht schon wieder zu mieser Erpressung greifst?“


    Liam legte eine Hand auf’s Herz und taumelte einen Schritt zurück, so als habe sie ihn tödlich getroffen.


    „Gestern, als Du Dein Mieder ausgezogen hast, bist Du im Angesicht meiner ‚miesen Erpressung‘ nicht wirklich in Tränen ausgebrochen.“ Dieses Mal fing er ihre Hand kurz vor seinem Gesicht ab. „Schlägst Du eigentlich alle Männer, die Dir mal ein bisschen Paroli bieten?“


    Alanis knirschte mit den Zähnen und antwortete:


    „Normalerweise werde ich auch nicht so provoziert.“


    „Und, vermisst Du’s?“ Liams Augen funkelten vergnügt und er ließ sie wieder los. Alanis konnte nicht anders. Ihre Mundwinkel zuckten nach oben.


    „Manchmal“, gab sie zu, kam dann aber nicht darum herum, ihre Milde mit den nächsten Worten wieder zurückzunehmen. „Mein Leben ist normalerweise ruhiger. Weil ich mich nicht mehr mit Leuten wie Dir abgebe.“


    Liam ließ sich davon nicht provozieren. Er zuckte lediglich mit den Schultern.


    „Was auch immer Du mit ‚Leuten wie Dir‘ meinst, Alanis. Zufälligerweise gehörtest Du auch mal dazu und ich glaube, dass das immer noch irgendwo tief in Dir steckt. Und daran werden auch heilige Amulette, blasierte Sprache und moralinsaure Vorträge nichts ändern.“ Alanis schnappt nach Luft, doch er ließ sie gar nicht zu Wort kommen. „Und nein, Du kommst heute Abend nicht mit. Das ist zu gefährlich für Dich.“


    Und damit ließ er sie einfach stehen, verließ das Zimmer und versäumte es auch nicht, außen den Riegel vorzulegen.

  • Kapitel 5


    Auf Abwegen


    Irgendwie hatte Alanis nicht gedacht, dass das Fenster so weit vom Boden entfernt war. Ein Bein über das Fensterbrett geschwungen, spähte sie hinunter und spürte, wie sie zu schwitzen begann. Noch einmal zog sie kräftig an dem Seil aus Betttüchern, das sie sich improvisiert und mit dem großen Schrank verknotet hatte. Dann biss die Priesterin die Zähne zusammen und schwang sich aus dem Fenster. Allerdings schwang sie nur kurz und knallte dann erst einmal mit Wucht gegen die hölzerne Hauswand, was ihr Tränen in die Augen und die Luft aus den Lungen trieb.


    Doch dann riss sie sich zusammen und ließ sich Stück für Stück ab, bis ihre Arme aufgaben und sie das letzte Stück bis zum Erdboden fiel. Sie kam auf, rollte sich ab und kam dann schwankend auf die Füße. Früher, so musste sie es sich selbst gegenüber zugeben, war das alles viel einfacher gewesen. Sie stopfte ihre Haare wieder unter den Schlapphut, den sie sich mit einigen anderen Kleinigkeiten aus Liams Privatbesitz ausgeborgt hatte, und klopfte sich unternehmenslustig den Staub von den Handschuhen.


    Der Weg bis zum Lagerhaus, bei dem Liam sie am Vorabend aufgegriffen hatte, war tatsächlich relativ einfach zu finden und Alanis bezog Posten ein Stück weit entfernt davon, hinter dem obligatorischen Stapel Kisten, den das Schicksal immer bereit stellte, wenn es etwas zu überwachen gab. Der Tag verging nur langsam, aber je dunkler es wurde, desto umtriebiger wurde die Gegend um das Lagerhaus. Immer wieder gingen Menschen alleine oder in kleinen Gruppen in dem Gebäude ein oder aus.
    Ein Räuspern erklang hinter ihr und sie zuckte zusammen. Soviel also zur guten alten Zeit.


    „Das ist mein Lieblingshemd, oder?“, erkundigte sich Liam freundlich. „Und meine zweitbeste Hose. Dir steht sie natürlich um Klassen besser als mir.“


    „Ich darf Dich übrigens auch über das Ableben Deiner beiden schönsten Betttücher informieren. Es tut mir übrigens nicht Leid.“


    Der Mann trat neben sie und blickte zum Lagerhaus hinüber.


    „Tust Du eigentlich nie, was man Dir sagt?“ Es klang resigniert. „Lernt man das als Priester?“


    „Du wärst überrascht, was man da so lernt.“ Alanis lächelte leicht. „Also, wie gehen wir vor?“


    „Weitere Gegenfrage: Du tust das hier nicht nur, weil Du mir nicht traust, oder? Du tust das auch, weil es aufregend ist. Die guten alten Zeiten. Damals, als wir in das Gasthaus eingestiegen sind -.“


    „Mag sein“, sagte Alanis kurz und missmutig und unterbrach seine Rede mit einer unwirschen Handbewegung. „Und ja, gut, Du hast Recht.“


    Liam lachte triumphal und der Tonfall bewirkte, dass sich Alanis Nackenhaare aufrichteten. Offenkundig, gestand sie sich missmutig ein, fehlte ihr die Präsenz eines Mannes in ihrem Leben. Verdammter Auftrag. Verdammter Khai-Thee.


    „Schön, dass Du noch immer so leicht zu durchschauen bist, Liebes. Für mich zumindest.“ Ein halbherziger Tritt an sein Schienbein erinnerte ihn daran, dass sie ihm eine Frage gestellt hatte. „Es gibt einen Hintereingang. Wie immer eigentlich. Das Lagerhaus ist der Haupteingang. Wer etwas mitbringt oder ein Anliegen hat, muss dort durch. Aber es gibt einen Tunnel, durch den man ungesehen hinein kann. Oder besser gesagt, hinunter.“


    „Ein Kellersystem unter der Stadt?“, vermutete Alanis und erntete ein Nicken. Es störte sie ein wenig, dass sich einige Erinnerungen regten, was solche dunklen Orte anging, allerdings befiel sie nicht mehr jenes namenlose Grauen, das sie schon oft allein bei dem Gedanken an Gewölbe und finstere Enge befallen hatte. „Was für ein Verhältnis hast Du zur hiesigen Gilde, dass Du so etwas weißt?“, fragte sie dann misstrauisch.


    „Ich bin so etwas wie ein – äh, Ehrenmitglied.“


    Alanis drehte den Kopf und schenkte ihm einen vernichtenden Blick, der zu ganz anderen Zeitpunkten schon Personen zu Stein hatte erstarren lassen – und das nicht nur im übertragenen Sinn.


    „Und warum kann der Herr Ehrenmitglied nicht einfach hineingehen, mir mein Amulett holen und dann wieder herausspazieren?“


    „Das ist wirklich nicht ganz so einfach. Alle Sachen, die gebracht werden, werden zu Geld gemacht. Und dieses Geld wird dann verteilt. Niemand kann Anspruch auf ein bestimmtes Stück erheben, weil das Neid und Unfrieden zwischen den Mitgliedern schüren würde. Also muss der Dieb den Dieben das gute Stück nun doch dieben.“


    Alanis seufzte leise.


    „Es wäre zu schön gewesen, wenn es einmal einfach gegangen wäre. Aber gut. Machen wir uns auf den Weg.“


    Liam wollte etwas entgegnen, aber offenkundig hatte er begriffen, dass sein Nein zu ihren Plänen einfach schlichtweg ignoriert werden würde. Daher tat er das, was das typische Verhalten eines Mannes war, der Ärger mit einer Frau vermeiden wollte. Er schwieg und fügte sich.

  • Kapitel 6


    In der Dunkelheit


    Sie stiegen über eine Leiter in den Keller eines benachbarten Lagerhauses. Es war für Liam überhaupt kein Problem gewesen, das komplizierte Schloss an der Gebäudetür selbst in der Dämmerung der aufziehenden Nacht mit einem Stück Draht zu öffnen und das nötigte Alanis einen gewissen Respekt ab. Ihr Großvater war ähnlich geschickt gewesen, was den Umgang mit Schlössern anging, sie selbst hatte aber niemals ein Talent dafür entwickelt. Wer wusste schon, was aus ihr geworden wäre, wenn das anders gewesen wäre?


    Als sie das Ende der Leiter erreicht hatten, standen sie im Stockdunklen. Die Priesterin spürte, wie ihr das Herz sofort bis zum Halse schlug und ihr Atem schneller ging. Eine Hand fand die ihre in der Finsternis und sie ergriff sie dankbar, nur um sich einen Augenblick später dafür zu verfluchen.
    Mit sanftem Nachdruck zog Liam sie in eine Richtung, die sie grob der Richtung der Räuberhöhle zuordnen konnte. Es ging durch einen schmalen Gang mit gemauerten Wänden, den Alanis nur tastend erleben konnte, denn so schnell, wie sie bereit gewesen war, Liam die Hand zu geben, hatte sie ihm diese auch wieder entzogen und war ihm hinterher getappt. Irgendwann veränderte sich das Echo ihrer Schritte, der Weg wurde breiter. Alanis wagte nicht zu fragen, ob sie Licht machen dürfte, sondern bemühte sich, die Spannung, die die Schwärze um sie herum in ihr auslöste, auszuhalten. Schließlich sah sie einen schmalen Schimmer voraus, der sich als Spalt in der gemauerten Wand herausstellte, viel zu schmal, als dass ein erwachsener Mensch hindurch gepasst hätte. Dennoch konnte Alanis einen Blick hindurch werfen und leises Murmeln empfing sie zusätzlich zu dem sanften Lichtschein.


    Vor ihren staunenden Augen tat sich ein riesiger, wenngleich niedriger Raum auf, der mit rußenden Fackeln und Öllampen diffus beleuchtet war. Teils aus dem Fels gehauen, teils mit gemauerten Wänden und Decken, wurde die Kaverne von einigen breiten Steinsäulen gestützt, die es den Menschen ermöglichten, sich ungefährdet zu bewegen. In einer Ecke saß an einem breiten Tisch ein Schreiber, der von zwei Wachen flankiert wurde, ein kleines, verhutzeltes Männchen, an dessen Aussehen lediglich sein scharfer Blick auffiel. Vor dem Tisch standen einige abgerissene Gestalten Schlange, die, wenn sie an die Reihe kamen, Gegenstände, Geldbeutel oder einfach nur kleinere Münzbeträge über die schmutzige Tischplatte schoben. Das Diebesgut wanderte dann in eine große Truhe, die neben dem Schreiber auf dem Tisch stand.


    Mehr als diese Szene sah Alanis nicht, doch die Geräuschkulisse verriet ihr, dass noch mehr in dem Raum vor sich ging, das sie von ihrer Position aber nicht sehen konnte. Ein Zupfen am Ärmel des dunkelgrauen Männerhemdes, das sie sich von Liam geborgt hatte, ließ sie den Rückzug antreten. Sie folgten dem Gang weiter und kehrten zurück in die Dunkelheit. Erst nach einer ganzen Weile kamen sie wieder zum Halten, nachdem der Gang einen jähen Knick gemacht hatte. Alanis rempelte voll in Liam hinein, weil sie in Gedanken schon beim Rückweg war. Bloß weil die Anfälle von Panik nicht kamen, hieß es nicht, dass sie gerne in der Dunkelheit war. Liam schlang einen Arm um sie, um zu verhindern, dass sie fiel und unnötigen Lärm machte.


    „Hier ist die Tür zum Lagerbereich. Normalerweise ist da um diese Zeit Ruhe“, flüsterte der Mann nahe an ihrem Ohr. Sie konnte seinen warmen Atem auf ihrer Haut spüren und fröstelte dennoch. „Jetzt müssen wir nur noch die richtige Kiste finden.“


    Alanis unterdrückte ein frustriertes Seufzen.


    „Wie viele Kisten müssen wir durchsuchen?“, zischte sie zurück.


    „Lass Dich überraschen.“ Plötzlich flutete Licht in den Tunnel und ein Stück der Wand schob sich zur Seite. Alanis blinzelte verblüfft und kurzzeitig geblendet. „Bei dem Mechanismus hatten wir zwergische Hilfe“, erklärte Liam mit einem Hauch Besitzerstolz, den Alanis argwöhnisch wahrnahm. Dennoch war das System aus hölzernen Schienen und über Rollen gelenkte Seilen, die die geheime Tür in Bewegung setzen konnten, sehr beeindruckend. Sie traten hinaus in einen niedrigen Gang, der rechterhand in einer verschlossenen Tür endete, die mit dicken Metallbeschlägen gesichert war. „Da geht’s raus in die große Halle. Und hier müssen wir hin“, erklärte Liam. Er sprach wieder sehr leise, auch wenn Alanis bezweifelte, dass man sie durch eine derart schwere Pforte würde hören können.


    Es gab eine zweite Tür. Ebenso wie der Ausgang war sie gesichert und metallbeschlagen, zudem mit einem großen Schloss versehen. In äußerster Seelenruhe machte sich Liam daran, mit Hilfe eines zurechtgebogenen Drahtes das Schloss zu knacken. Alanis wippte nervös auf den Zehenspitzen hin und her, bis sie ein vernichtender Blick aus seinen blauen Augen dazu brachte, jegliche Bewegung wieder einzustellen. Schließlich klickte es, das Schloss öffnete sich und Liam stemmte die Tür auf.


    Und dann standen sie in einer Schatzkammer.

  • Kapitel 7


    Unter der Erde


    Alanis klappte die Kinnlade herunter. Die Schatzkammer der heimischen Diebesgilde war ein mindestens zehn mal zehn Schritt großer Raum, in dessen Mitte in Reih und Glied eine geschlossene Geldkiste neben der Anderen stand. Das, was nicht in diese Kisten passte, die Alanis schon im Hauptraum gesehen hatte, – Bilder, Statuen, silberne und goldene Kerzenständer, schillernd bunte, edle Teppiche, Stoffballen, feine Waffen aller Art, Glaswaren und Transportkisten für zig andere Gegenstände – türmten sich an den Wänden auf. Es gab Licht in dem Raum, kleine, glühende Behältnisse aus Glas, die man in Haltern an den Wänden angebracht hatte. Es war offenkundig magischen Ursprungs und sollten wohl verhindern, dass jemand offene Flammen mit in den Raum brachte, in dem ein Brand eine Katastrophe gewesen wäre.


    Mit einem sehnsüchtigen Blick ließ Alanis die Hand über einen Ballen graugrüne Seide gleiten, der achtlos an der Wand neben der Tür gelehnt war und genoss das sündige Gefühl auf der Haut. Liam hatte unterdes die Tür geschlossen und sah sich um.


    „Jede Kiste wird beschriftet“, erklärte er leise und wies auf die Kreidemarkierungen auf der Oberseite der Geldkisten. „Du wurdest vorgestern beraubt, als müsste es -.“ Er ging an den Kisten vorbei und sah sich die Markierungen an. „Diese hier ist es.“


    Er ließ sich neben einer Kiste nieder und klappte sie auf. Alanis hockte sich neben ihn und bekam bei dem Anblick von Münzen aus aller Herren Ländern und kleinen Schmuckstücken Lust, einmal richtig zuzugreifen. Doch sie beherrschte sich. Das Amulett stand an erster Stelle. Konzentriert begann sie, die Kiste zu durchsuchen, bis ihre Fingerspitzen eine vom vielen Tragen speckige Lederschnur ertasteten. Ein Ruck und das gute Stück war geborgen. Schnell hängte sie es sich um den Hals, dann nahm sie sich einige Münzen aus der Kiste, die in etwa dem Wert entsprachen, den sie an die Diebe verloren hatte – nun, vielleicht auch ein wenig mehr – und ließ die Münzen in die Hosentasche gleiten.


    Eine Hand auf das Amulett legend, erhob sie sich dann. Es war ein gutes Gefühl, die vertrauten Umrisse unter den Fingern zu spüren, noch kalt, doch vom warmen Puls unglaublicher Kraft durchdrungen. Leider flog aber in dem Moment, in dem sie meinte, dass ihre Selbstsicherheit zurückgekehrt war, die Tür auf und zwei Männer sprangen in den Raum. Sie waren dreckig und abgerissen, so wie der kleine Junge, der Alanis vor zwei Nächten in die Falle geleitet hatten. Ihre gezogenen Dolche jedoch waren blank und scharf und die Priesterin durchfuhr ein Gefühl der Dankbarkeit, dass es bei dem Überfall auf sie bei einer dicken Beulen und einigen blauen Flecken geblieben war.


    Liam fluchte obszön und Alanis erstarrte. Durch die geöffnete Tür erklangen wütende Rufe und Waffengeklirr, noch ein Stück weit entfernt. Offenkundig würde es nicht bei zwei Angreifern bleiben. Einer der beiden Männer machte Anstalten, sich auf sie zu stürzen. Alanis wich zurück, erschrocken, ihr Herz begann zu rasen, als sie ein wenig taumelte, weil ihr Unterschenkel eine der Geldkisten streifte. Geistesgegenwärtig ergriff sie einen Kerzenleuchter, der in einem der Regale lag und zog ihm dem Mann mit Macht über den Kopf. Warmes Blut spritzte ihr in’s Gesicht und sie wischte es in einem Reflex sofort mit dem Hemdsärmel ab. Liam ließ seine Fäuste sprechen und fällt seinen Gegner mit einem Schlag an dessen Kinn.


    „Wir müssen raus!“, rief Alanis ihm zu, als die nächsten Männer im Türrahmen erschienen und sich zum Glück für einen Moment gegenseitig blockierten. Dann umfasste sie ihr Amulett und begann zu beten. Die Luft in dem Raum verdichtete sich so unheilschwanger wie bei einem nahenden Gewitter und eine Böe trieb die Angreifer zur Tür hinaus, durch die sie sich eben hineingequetscht hatten.


    Liam verlor keine weitere Zeit. Zwar hatte ein kurzer, verblüffter Blick Alanis gegolten, doch dann griff er sich ein paar Langdolche, die er bislang verborgen unter der Jacke getragen hatte. Mit Macht, die Kraft seines großen Körpers nutzen, stürmte er aus dem Raum. Alanis folgte ihm sofort, doch ruhiger und mit mehr Bedacht. Ihre Lippen bewegten sich in stetem Gebet, das die Elemente um Schutz für sich und ihren Begleiter anflehte.


    Liam unterlegte sich derweil mit drei Männern an, indem er einfach in sie hineinstürmte, um sie von der Geheimtür fortzudrängen. Zwei der Halunken ließen sich davon beeindrucken und wichen zurück, doch der dritte, grobschlächtiger und kaltblütiger als seine Begleiter, zog zwei Messer und begann, auf Liam einzustechen. Klingen blitzten im matten Fackellicht im Korridor. Alanis wollte ihm zur Hilfe eilen, zuckte jedoch zusammen, in ihrer Ruhe gestört, als sie einen Luftzug spürte, der an ihrem Ärmel zupfte und von einem siedend heißen Schmerz begleitet wurde. Sie fuhr herum und sah, dass der Mann, den Liam in der Schatzkammer hatte liegen lassen, wieder zu sich gekommen war. Taumelnd stand er im Türrahmen, eine metallene Armbrust in der Hand. Alanis stieß ein schmerzerfülltes Zischen aus, dann erhob sie wieder ihre Stimme und ließ sich von der Macht des Feuers tragen, gefangen nehmen und besitzen, gleichzeitig ein Teil davon wie auch ihm völlig untertan. Die Armbrust und der Messer des Angreifers, mit dem Liam sich beharkte, begannen zu glühen. Schreie wurden laut und es roch nach verbrannter Haut.


    Dann ging alles schnell. Sie spürte, wie neben ihr die Wand zur Seite glitt, Liam sie an der Hüfte packte und mitriss. Dann stolperten sie zurück in die Dunkelheit.

  • Kapitel 8


    Kleine Sünden


    Ein kurzes Stoßgebet, dann gleißte ein Licht in Alanis Hand auf. Nun war Schluss mit der Heimlichkeit in der Finsternis. Nun hieß es – Laufen. Die Priesterin stürmte los und bemerkte mit einer seltsamen Art von Genugtuung, dass Liam immer dicht hinter ihr blieb, so als würde er sie vor allem beschützen wollen, was hinter ihnen geschah.


    Tatsächlich wurden sie verfolgt, der geheime Gang war wohl nicht so geheim, dass man ihn nicht für eine Verfolgungsjagd nutzen konnte. Stimmen und das Kratzen von viel zu langen Waffen, die in den Gang gebracht wurden und die an den Steinwänden entlang kratzten, hallten den beiden Fliehenden hässlich nach.


    Als Alanis einen Blick nach hinten riskierte, bemerkte sie verdutzt, dass Liam zurückfiel. Erschrocken bemerkte sie, dass er seine Hand auf seinen Bauch gepresst hielt. Blut, das in dem fahlen Licht, das sie begleitete, so schwarz wie die Nacht schien, sickerte über seine Finger. Ein schiefes Grinsen erschien auf seinen bleichen Zügen, als er ihren Blick bemerkte.


    „Geht schon. Weiter!“, rief er gepresst. Alanis überlegte für einen Moment, ihn vorbeizulassen und sich mit der Macht, die sie hatte, um ihre Verfolger zu kümmern, doch sie entschied sich dagegen. Sie wollte niemanden töten und vor allem wollte sie keine Zeit damit verschwenden zu kämpfen, wenn sie sie doch dafür nutzen konnte, Liam zu helfen. Und so lief sie weiter und hoffte und betete, dass man sie nicht einholte.


    Endlich erreichte sie die Leiter und stieg empor. Oben angekommen, hielt sie Liam die freie Hand hin und zog ihn das letzte Stück empor. Das Licht in ihrer anderen Hand verlosch dabei, doch das war nicht schlimm, denn ein matter Lichtschimmer drang von den Nachbarhäusern durch die löchrigen Wände hinein in das Versteck. Dann, als Liam neben ihr auf den Boden sackte, schlug Alanis die Falltür zu, die den Eingang verbarg und zerrte mit einer Kraft, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte, eine Kiste darüber.


    „Können wir zu Dir? Oder wissen sie, wo Du lebst?“, brachte sie hervor, keuchend und mit Seitenstechen. Liam hatte sich auf den Rücken gerollt und schnappte ebenfalls nach Luft. Alanis kramte aus ihrer Gürteltasche den obligatorischen Verband hervor und beugte sich über ihn. Sein Hemd war zerfetzt und besudelt und die üble Wunde n seinem Bauch blutete immer noch heftig. Alanis zögerte nicht weiter, riss sein Hemd weiter auf und presste den Verband auf die Verletzung. „Kommst Du hoch?“


    „Zu – viele – Fragen“, murmelte Liam, der sich ihre Behandlung bisher hatte bewegungslos gefallen lassen und rappelte sich dann tatsächlich auf, den Verband übernehmend. „Wir gehen zu mir. Und schauen dann weiter.“


    Von unten wurde unterdes heftig gegen die Einstiegsluke zu dem unterirdischen Gang geschlagen und die beiden alten Freunde beeilten sich nun, in die relative Sicherheit von Liams Behausung zurückzukehren. Sie lag nur einige Querstraßen entfernt und als sie dort ankamen, war noch alles ruhig. Das seltsame Gefühl in Alanis Magengrube verriet ihr jedoch, dass es nicht lange so bleiben würde.


    Sie eilten durch den Eingang und die Treppe hinauf. Kaum waren sie durch die Tür zu Liams Räumen, legte Alanis innen den schweren Riegel vor, während Liam zu seinem Bett taumelte und sich einfach fallen ließ. Die Priesterin schluckte kurz trocken, dann griff die Erfahrung, die sie in zahlreichen ähnlichen Situationen gesammelt hatte. Sie machte Licht, wusch sich in der Waschschüssel die Hände und stellte die Öllampe dann auf den Nachttisch, um sich neben ihren Patienten zu knien, der die Augen geschlossen hielt und schwer atmete. Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gesammelt und als Alanis seine Hand wegschob, die noch immer den Verband krampfhaft auf der Wunde hielt, kam ihr direkt der nächste Schwall Blut entgegen.


    „Darf ich für Deine Gesundung beten?“, fragte Alanis leise und Liam öffnete die Augen wieder.


    „Für mich armen Sünder? Ist es Zeit, abzutreten?“ Sein Tonfall war spöttisch, aber Alanis erkannte im matten Licht der Lampe, das sich in den Bettvorhängen fing und lange Schatten warf, dass er Furcht vor ihrer Antwort hatte.


    „Unkraut vergeht nicht“, gab sie Priesterin trocken zurück. „Und ob Du ein Sünder bist oder nicht, ist für mich ohne Belang. Ich bin nicht so eine Priesterin.“


    Seine Mundwinkel zuckten.


    „Wirklich? Also für den Fall schlage ich vor, Du schläfst noch einmal mir. Dann wäre ich nicht nur der erste Mann in Deinem Leben, sondern auch der Letzte.“


    Alanis sparte sich eine Antwort. Sie beugte sich vor und gab ihm einen sachten und sehr keuschen Kuss auf die Stirn. Dann legte sie ihre Hände über die Wunde und wartete, ob Widerworte kommen würden. Als diese ausblieben, begann sie leise und voller Inbrunst zu beten.

  • Kapitel 9


    Wahrheiten


    Es herrschte Stille in dem kleinen Zimmer. Hin und wieder zischte die Öllampe leise. Alanis lauschte. Nach draußen, wo sie die rachsüchtige Diebesgilda vermutete, ebenso wie auf Liams Atemzüge, die sich nach und nach beruhigten. Irgendwann während ihres Gebetes hatten sich seine Augen geschlossen und die Priesterin glaubte, er wäre eingeschlafen. Vorsichtig löste sie ihre Hände von seinem blutverschmierten Bauch und schickte sich an, vom Bett zu rutschen.


    „Wo willst Du hin?“ Liams Finger umschlossen ihr Handgelenk. Er öffnete ein Auge und lächelte, während er sie zurück auf die weiche Matratze zog. „Willst Du mich hier alleine sterben lassen?“


    Alanis machte leise ‚Pfft‘ und schmunzelte.


    „Du wirst nicht sterben, Liam. Eine Nacht Ruhe und Du bist wieder ganz der Alte. Wenn Du allerdings auf die dumme Idee kommen solltest, über mich herzufallen, dann kann ich für nichts garantieren.“


    „Als ob ich das tun würde“, kam es, nun wirklich ehrlich entrüstet, zurück. Er griff nach einem Kissen und zog es sich unter den Kopf. Er zog eine Grimasse dabei, hatte offenkundig noch Schmerzen. Ein kurzer Moment des Schweigens entstand. „Also, Du bist keine von diesen Priesterinnen. Was für eine Priesterin bist Du dann?“


    „Elemente-Priesterin“, gab Alanis zurück. „Keine Moral außer der, dass das Leben heilig ist.“


    Liam runzelte die Stirn.


    „Muss ich wohl nicht verstehen“, murmelte er träge und betrachtete Alanis eindringlich. „Was machst Du eigentlich hier?“


    „Hier? Ich liege hier, weil Du mich rumzerrst und ich mir nicht die Hände saubermachen kann.“ Sprach es und stand auf, um sich das Blut von den Händen zu waschen. Über die Schulter blickend, sprach sie jedoch weiter: „Aber wenn Du diese Stadt meinst, ich bin auf einer Reise in den Norden. Mein Lehrmeister hat mich dorthin geschickt. Ein paar Wochen frieren, dann geht’s nach Hause zurück.“


    Liam gab ein Brummen von sich, dann erkundigte er sich spöttisch:


    „Und, einen Mann und viele süße Kinder zuhause?“


    Alanis hielt inne, dann wandte sie sich um und trocknete ihre Hände an ihrer Hose ab.


    „Ja“, sagte sie dann ruhig. „Keine Kinder. Aber einen Mann. Und das mit den Kindern bekommen wir auch noch hin.“


    Liam grinste schief.


    „Schade. Ich dachte Du und ich wären füreinander geschaffen.“


    Alanis seufzte leise.


    „Damit konntest Du mich beeindrucken, als ich fünfzehn war, Liam. Vergiss es. Die Zeiten sind vorbei. Ich bin Priesterin und Du bist -.“


    „Immer noch ein Dieb“, vervollständigte Liam ihren Satz. Es klang erstaunlich kühl für jemanden, der sich zu jederzeit gerne mit seiner Ganovenehre brüstete. „Du bist die Tochter von Dieben und Du warst selbst eine. Meinst Du, Du kannst durch tausend gute Taten tausend schlechte ungeschehen machen?“


    Alanis schwieg für einen Moment und presste die Lippen zusammen.


    „Nein“, antwortete sie schließlich und schüttelte den Kopf. Sie zog sich den Schlapphut von den Haaren, die daraufhin wieder offen über ihre Schultern fielen. „Entschuldige bitte.“


    Liam grinste und schloss die Augen wieder.


    „Schon gut, Liebes. Du warst tatsächlich immer zu etwas Besserem bestimmt. Das war mir schon klar, als Du damals abgehauen bist.“

    Alanis blinzelte verblüfft.


    „Abgehauen? Ich bin nicht abgehauen. Hat mein Vater Dir das erzählt?“ Liam setzte sich auf, schneller, als es eigentlich für ihn gut war. Er presste eine Hand auf seinen Bauch und stieß scharf die Luft aus. Also nickte er lediglich als Antwort. Alanis Augenbrauen zogen sich zusammen. „Es stimmt, dass ich mit Dir geschlafen habe, weil ich meinen Vater ärgern wollte. Was ich nicht wusste, war, dass er mich Diego versprochen hatte. Für sehr viel Geld. Und Du weißt ja, welche Vorlieben Diego hatte.“ Verachtung vibrierte in Alanis Stimme. „Für Ungehorsam hätte mein Vater mich eine Woche lang hungern lassen. Aber für das entgangene Geld hat er mich fast in Stücke geschlagen und mich in eine Grube im Wald geworfen.“


    Liam starrte sie verblüfft an. Das, was Alanis ihm erzählt hatte, schien nur langsam in seinen Kopf zu sickern und seine Miene veränderte sich. Düster schwor er:


    „Wenn ich Deinen alten Herrn das nächste Mal sehe, breche ich ihm alle Knochen. Er hat all die Jahre gelogen, der Dreckskerl.“


    Alanis zuckte kurz zusammen, dann stand die mit drei schnellen Schritten wieder vor dem Bett.


    „All die Jahren? Wann hast Du ihn das letzte Mal gesehen?“


    In diesem Moment krachte die Spitze einer Ramme durch die Tür.

  • Kapitel 9


    Abschied


    Liam war schneller aus dem Bett, als Alanis erwartet aufgrund seines Zustand erwartet hätte. Er sprang zu seinem Schrank, riss einen Degen heraus und wandte sich der Tür zu. Auch die Priesterin fuhr hoch, zum einen, um für einen Kampf bereit zu sein, zum anderen, weil sie genau sah, dass Liam sich zusammenkrümmte, als er auf die Füße kam. Die Heilung war noch lange nicht beendet und die heftigen Bewegungen mussten ihn schmerzen. Mehr noch, als Alanis neben Liam trat, tropfte wieder Blut aus seiner Bauchverletzung auf den Boden. Die Priesterin zögerte nicht lange, sondern legte eine Hand auf seine Wunde, um das Fleisch mit Eis zu durchweben. Das würde Liam immerhin ein wenig Zeit verschaffen.


    Die Angreifer vor der Tür, die sich zuvor die Mühe gemacht hatten, sich äußerst leise zu nähern, versuchten nun mit vereinten Kräften, die Pforte aufzuschlagen. Noch hielten die eisernen Bänder und der schwere Riegel aus Eichenholz, aber eine Bohle war bereits zerbrochen und auch eine zweite sprang splitternd entzwei. Alanis konnte mehr als vier verschiedene Stimmen wahrnehmen und wer immer auch vor der Tür stand, er war wütend. Die Priesterin begriff, dass es den Angreifern nicht um den Diebstahl ging, sondern vielmehr um den Verrat, den Liam in den Augen seiner Kumpane begangen haben musste. Nicht zum ersten Mal fragte sich Alanis, warum er ihr geholfen und ein derartiges Risiko auf sich genommen hatte.


    „Schau, dass Du wegkommst!“, presste Liam zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor und unterbrach ihre Gedankengänge. Die Priesterin musterte sein bleiches Gesicht und eilte zum Fenster, um hinunterzusehen. Geistesgegenwärtig zerrte sie das improvisierte Seil aus Betttüchern, das von ihrer Fluchtaktion zu Beginn des Abends noch an der Hauswand baumelte, zu sich nach oben, als sie in der fensterlichtdurchdrungenen Dunkelheit sah, dass eine kleine Gruppe Männer um die Ecke bog, um auch diesen Fluchtweg abzuschneiden. Die Priesterin fluchte, warf das Seil neben sich auf den boden und schloss das Fenster mit einem Ruck.


    „Sie stehen auch vor dem Fenster!“, rief sie. In dem Moment griff eine Hand durch das Loch, das die Ramme in die Tür gestanzt hatte und tastete nach dem Riegel. Liams Klinge zuckte vor und durchbohrte Haut und Knochen. Ein gellender Schrei, dann wurde die verstümmelte Hand zurückgezogen.


    „Der Teppich neben dem Schrank. Darunter ist eine Falltür. Die Leiter führt in den Keller und von dort weiter.“ Liams Worte waren leise und eindringlich und es lag etwas in ihnen, das Alanis ruckartig aufblicken ließ.


    „Du kommst doch mit, oder?“ Ihre Stimme klang auf einmal erstaunlich dünn. Eine Vorderladerpistole wurde durch die sich vergrößernde Öffnung in der Tür geschoben. Der Schuss löste sich krachend, die Kugel zischte knapp an Alanis Kopf vorbei und beendete jeglichen Versuch, an der Entscheidung, die Liam offenkundig getroffen hatte, zu rühren. Sie wirbelte herum, rannte in die Zimmerecke und zerrte den Teppich weg. Die Falltür ließ sich leicht über den im Boden eingelassenen Ring öffnen. Darunter gähnte Dunkelheit. Hinter Alanis krachte ein zweiter Schuss, direkt danach splitterte das Fenster und etwas Brennendes zerschellte auf dem Fußboden und fraß sich in den Stoff, den Alanis dort hatte fallen lassen. Der heiße Atem des Feuers, das sich über trockenen Holzfußboden arbeitete, schlug Alanis ins Gesicht, als sie sich auf die Knie niederließ, um mit den Füßen die ersten Sprossen der Leiter zu ertasten. Rauch waberte durch das Zimmer, Funken hatten die dunkelroten Bettvorhänge erfasst und das Feuer kroch daran empor. Liam war von der Tür zurückgewichen und sie sah, dass er sich zu ihr umblickte. Ein heiteres Lächeln lag auf seinem Gesicht, das in krassem Gegensatz zu seinem blutgetränkten Hemd und dem nahezu mörderischen Ausdruck in seinen Augen lag.


    „Wo finde ich Dich, wenn ich das hier überstehen, Liebes?“


    Alanis starrte ihn einen Moment groß an und überwand sich dann.


    „Renascân.“


    Dann eilte er auf sie zu und Alanis begriff, dass er die Luke über ihr schließen würde. Sie begann zu klettern, mit dem Fuß eine Sprosse nach der anderen nehmend und das Letzte, was sie sah, bevor die Dunkelheit sie verschluckte, war Liams Gesicht. Er grinste sie an, so als würde er ihr sagen wollen, dass das alles nur ein großes, amüsantes Spiel war und sie sich keine Sorgen machen sollte. Dann klappte die Falltür zu und Alanis war wieder so allein, wie sie es vor ihrer Ankunft in der Hafenstadt gewesen war.

  • Epilog


    Alanis war durch die Dunkelheit der Kellergewölbe gerannt und in irgendeinem Kartoffelkeller wieder aufgetaucht. Im Kellerfenster, das nach draußen in die Freiheit führte, war sie fast steckengeblieben, aber irgendwie war sie dann doch hinausgekommen. Hinter ihr war der Himmel taghell erleuchtet gewesen und Menschen mit Wassereimern waren durch die Straßen gerannt, um den Brand zu löschen. Alanis hatte die Unruhe benutzt, um unerkannt zum Hafen zurückzukehren, die Schatten nutzend, sich alle Zeit der Welt nehmend. Sie hatte in dem unglücksseligen Wirtshaus ihren Korb ausgelöst, sich ein Zimmer mit einem Zuber gemietet und lange und zu heiß gebadet; ihren durch den Streifschuss verletzten Arm verbunden und sich wieder wie eine respektable Frau gekleidet.


    Und nun stand sie am Bug eines Dreimasters, der gen Dorlónien aufbrach, ein stolzes Schiff mit einem verstärkten Kiel, der fähig sein würde, die Eisplatten zu durchschlagen, die zu dieser Jahreszeit noch auf der Firnsee trieben. Ihre Hände lagen auf der Reling und ihr Blick ruhte auf dem ewigen Ozean, der sich gischtsprühend am Schiff aufspaltete. Ein leichtes Lächeln zuckte um ihre Lippen, wehmütig und weltfremd.


    Die Reise war jetzt schon zu lang, viel zu lang. Weil sie zu weit zurückgereicht hatte, in Zeiten und Tiefen ihres Selbst, die sie abgelegt geglaubt hatte. Aber vielleicht war das auch nur eines jener Erlebnisse, die geschehen mussten, damit sie sich davon lösen und daran wachsen konnte. Eine Narbe, dessen war sie sich sicher, würde dennoch zurückbleiben – und das nicht nur an ihrem Arm.


    Die Priesterin seufzte und schlug ihre Kapuze hoch, als leichter Schneefall einsetzte und ihr ein Schauer durch die Glieder fuhr. Bis vor Kurzem hatte sie geglaubt, dass sie tief im Herzen nirgendwo zuhause sein konnte. Und dann war ihre Vergangenheit wieder in ihr Leben getreten und der Blick zurück hatte ihr nur noch deutlicher gezeigt, wie wertvoll das war, was vor ihr lag. Und wie sehr sie sich doch geirrt hatte.


    Alanis drehte sich um und ging unter Deck. Es war ein weiter Weg bis Dorlónien und ein noch viel weiterer Weg nach Hause.