Dies hier ging voraus...
Kapitel 1
Vom Regen in die Traufe
Gut, sie war schon in brenzligere Situationen geraten. Große Schlachten, die auf Messers Schneide ausgegangen waren. Diverse fiese Verletzungen, die sie nur um Haares Breite überlebt hatte. Aber von Piraten in einer Hafenstadt ausgesetzt zu werden, in der man sie dann in die Gosse stieß, ihr Geld stahl und das silberne Amulett, das sie jeden Tag in den vergangenen 5 Jahren getragen hatte – das war definitiv zu viel des Guten.
Alanis saß am Hafen auf einer Kiste, die durchdringend nach Fisch roch und kochte vor Wut. Ihre grünen Augen hefteten sich auf den Horizont, an dem sie Sonne unterging und hätte sie die Möglichkeit gehabt, Schiffe allein mit Blicken zu versenken, dann wäre wohl weit draußen eine stattlichen Dreimastbark zu den Fischen gegangen. Da sie aber nur eine kleine Heilerin und Priesterin war, hatte sie diese Macht natürlich nicht.
Mit einem Seufzen tastete sie nach ihrem Nacken, in dem eine stattliche Beule schwoll. Eigentlich hatte sie am vergangenen Abend in einem Wirtshaus Essen und Unterkunft finden wollen. Als sie ein kleiner Junge darum gebeten hatte, seiner Mutter zu helfen, die angeblich in einer Gasse nahe des Hauses in den Wehen lag, hatte sie nicht lange gezögert und war dem Kleinen nach draußen gefolgt. Was dann folgte, daran erinnerte sie sich nur noch schemenhaft, denn sie hatte einen kräftigen Schlag abbekommen und war wenig später in der Ecke, in die das Wirtshaus seinen Müll entsorgte, wieder zu Bewusstsein gekommen. Ohne Geldbeutel, ohne ihr Amulett und mit großer Wut im Bauch.
Um den Wirt, dem sie eine Mahlzeit und eine gebuchte Übernachtung schuldete, die sie nunmehr nicht mehr bezahlen konnte, zufrieden zu stellen, hatte sie ihm ihren Rückenkorb als Pfand hinterlassen. Jetzt, tags drauf, hatte sie also nichts mehr in der Hand, das sie irgendwie weiterbringen würde. Und die Nacht brach herein. Zeit, eine Lösung zu finden.
Sie erhob sich, zog ihren Mantel enger um die Schultern und fröstelte. Dann machte sie sich daran, die Straßen der Stadt zu durchwandern. Der Geruch nach Fisch, salziger Luft und Verfall war allerorts wahrnehmbar. Direkt am Hafen gab es sich in unterschiedlichen Stadien des Verfalls befindliche Lagerhäuser und einige wenige Bordelle und Wirtshäuser. Je weiter es in’s Landesinnere ging, desto sauberer wurden die Straßen, an einigen Stellen waren sie sogar gepflastert. Hier hatten sich die begüterten Kaufleute und Handwerker niedergelassen, die sich kleine Fachwerkhäuser leisten konnten, die sich dicht aneinander drängten. Aus einer offenen Garküche drangen herzhafte Gerüche zu der Priesterin hinüber und sie legte eine Hand auf ihren Bauch, in dem es verlangend grummelte. Im Schatten der Stadtmauer, die die große Siedlung vom waldigen Hinterland abgrenzte, ließ sie sich auf der durch zahlreiche Füße abgenutzten Treppe nieder, die zum Wehrgang hinaufführte.
Inzwischen war es fast dunkel und in den Häusern flammte hinter Butzenscheiben der Lichtschein entzündeter Lampen auf. Alanis sehnte sich nach der Wärme einer festen Unterkunft, doch wo kein Geld war, gab es diesen Luxus nicht. Sie streckte ihre kalten Knochen, bis sie knackten und stand wieder auf. Just in jenem Moment gellte der Ruf „Haltet den Dieb!“ gedämpft zu Alanis hinüber. Eine Haustür hatte sich geöffnet und zwei Gestalten stoben heraus. Eine, klein und wendig und mit etwas unter dem Arm, das in der Dämmerung wie eine Kiste aussah, gab sofort Fersengeld. Und eine andere Gestalt, massig, berockt und mit einem Nudelholz bewaffnet, eilte sofort hinterher. Die fette Hausfrau jagte dem kleinen Jungen einige Schritte hinterher, musste dann jedoch keuchend aufgeben. Alanis blinzelte verdutzt, dann bewegten sich ihre Beine schneller als ihr Gedanken. War das nicht die kleine Ratte -?
Die Priesterin lief los und dem jungen Dieb hinterher. Rücksichtslos drängte sie sich an der fetten Frau vorbei, die mit ihren Ausmaßen fast die ganze Gasse einnahm und hörte noch, wie die ihr einige unflätige Bemerkungen nachrief, bevor sie um die nächste Ecke bog. Bereits nach kurzer Zeit keuchte auch die Priesterin merklich. Das gute Leben der vergangenen Monate hatte nicht nur Spuren an ihren Hüften hinterlassen, aber sie biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich darauf, den wieselflinken Dieb einzuholen, der mittlerweile einen beträchtlichen Vorsprung hatte und offenkundig in’s Hafenviertel zurücklief. Endlich fand die Jagd ein Ende und der Dieb verschwand in einem der verfallenen Lagerhäuser. Alanis hielt Abstand, zum einen, weil sie nach Luft schnappen musste und zum anderen, weil sie nicht blindlings hinterherstürmen wollte. Immerhin hatte der kleine Kerl sie schon einmal getäuscht. Als sich eine ganze Weile nichts getan hatte, fasste sie sich schließlich ein Herz und schlich auf das Lagerhaus zu.
Die dunkle Gestalt, die im Schatten neben dem Haus gelauert hatte, hatte sie jedoch übersehen. Alanis wollte schreien, als sich auf einmal ein starker Arm um ihre Hüften legte und sie in die Schatten zog. Aber eine zweite Hand legte sich unbarmherzig über ihren Mund und ganz gleich, wie sehr die Priesterin zappelte und um sich trat, der Griff löste sich nicht. Schließlich musste sie sich eingestehen, dass sie wieder einmal mächtig in der Tinte saß.