14. Amethyst 251 nach Jargo
An Bord einer Brigg auf hoher See
Die Sonne befindet sich noch auf dem Weg zum Zenit und schon jetzt ist der Tag warm und schwül. Askir lockert sich die Halsbinde, während sein Blick über das Deck schweift. Das morgendliche Schrubben der Planken ist schon kaum mehr zu erkennen, denn an vielen Stellen tropft und fließt das schmelzende Teer aus den Plankenstößen heraus und hinterlässt hässliche, schwarze Flecken. Unter den Schuhen und blanken Fußsohlen der Matrosen wird er dabei mehr oder minder gleichmäßig über das Deck verteilt. Dies gefällt auch nicht dem ersten Offizier des Schiffes, der vom Achterdeck mit missmutiger Miene sein Schiff betrachtet.
Schon seit drei Tagen liegt die "Kalypso", eine eigentlich schmucke Brigg, in den Kalmen fest, wo sie sich schlingernd und dümpelnd zum Takt der Wellen bewegt. An den Landlubbern an Bord, die noch keine Seebeine besitzen (und von denen einige diese auch nie entwickeln werden), kann man erkennen, dass diese Schiffsbewegungen für einen feinfühligen Magen schlimmer sind, als der Tanz über hohe Brecher in einem ausgewachsenen Sturm. Ihr Mageninhalt hatte sich (zur nicht besonders großen Freude der Crew) an der Reling hinunter zu den Abfällen und Exkrementen gesellt, die sich langsam aber sicher rund um das in der Flaute liegende Schiff ausbreiten und die Seefahrt ohne Wind auch in ein olfaktorisches Erlebnis verwandeln.
Für ein paar Tage wird noch genug Trinkwasser an Bord sein, auch wenn der Kapitän dieses heute sicher noch rationieren wird. Denn es wäre nicht das erste Mal, das die Mannschaft eines Schiffes in einer solchen Flaute verdurstet wäre. Doch noch hat man an Bord die Hoffnung, dass die Flaute nicht lange anhält. Die selbsternannten Hellseher unter den Matrosen deuten die Wolken am Horizont und jede einzelne größere Welle als gutes Vorzeichen. Der Kapitän hat alle Segel, sogar die Royals, setzen lassen, um selbst den kleinsten Windhauch, so er sich denn zeigt, nutzen zu können. Es ist alles getan, was man in einer solchen Situation machen kann, und auch Askir weiß aus seiner langjährigen Erfahrung als Seefahrer, dass man jetzt nur noch warten kann.
Nachdem der Schiffsarzt der "Kalypso" im letzten Hafen den Helden spielen musste, in dem er sich in einer mehr berüchtigt als berühmten Taverne in den Streit um eine Dirne einmischte, war das Schiff um einen Heiler ärmer: Dieser trieb am nächsten Morgen mit einem Dolch zwischen den Schulterblättern kopfüber im Hafenbecken. Glück für Askir, der als Schiffsarzt auf der Brigg anheuern konnte, denn wie auf den meisten Schiffen sind die Kapitäne froh, wenn sie überhaupt Jemanden finden, der halbwegs vernünftig eine Wunde nähen und einen Bruch richten kann. Auch, weil das die Matrosen beruhigt, die an Deck und in der Takelage eine nicht ungefährliche Arbeit verrichten.
Der „Humpen-Baron“ seufzt leise, als er daran denkt, dass er im Lazarett noch nach seinen Patienten schauen muss. Ein Matrose mit Syphilis und eine Toppgastin mit einem Leistenbruch (dem typischen Matrosen-Leiden). Das Lazarett liegt, wie sein „Arbeitszimmer“ im Orlop tief unten im Schiffsrumpf. Bei der seit Tagen anhaltenden Hitze eine reine Sauna, in dem unablässig das Tropfen des Teers aus den Plankenstößen zu vernehmen ist und auch die ersten kleine Rinnsale Meerwasser durch den Rumpf dringen. Ein Ort, in dem man sich derzeit nicht gerne aufhält und weshalb Askir auch das Aufräumen der kleinen Kajüte mit den Arbeitsutensilien, die ihm sein Vorgänger in heillosem Durcheinander hinterlassen hat, seit Tagen vor sich her schiebt.
Die aufgeregten Stimmen aus dem Fockmast lenken die Aufmerksamkeit des Mannes aus Havena dorthin, wo einige Matrosen wild gestikulierend nach Osten zeigen. Wortfetzen, die Wörter wie Wolken, Türmen und Sturm beinhalten, dringen an seine Ohren. Sein Blick gleitet nach Osten, wo aber noch kein Wölkchen über der Kimm zu sehen ist - doch das hat wenig zu sagen, hat man von der Fockbramsaling durch den höheren Standort und kann weiter über den Horizont hinaus blicken. Das Leuchten in den Augen des Kapitäns, der aus seiner Kajüte kommend aufs Achterdeck tritt, lässt jedoch die Hoffnung erahnen, welche in den Herzen aller Männer und Frauen an Bord aufglimmt.
Erwartungsvoll hoffend lehnt sich Askir an die Finkennetze der nach Osten liegenden Steuerbordseite und blickt auf das Meer hinaus …