Der singende Wald 4

  • Nach drei Wochen zorniger Abwesenheit tragen auch Kassandras Füße sie wieder in den Wald. Warum hat sie so lange gewartet? Im Nachhinein kann sie es nicht mehr ganz verstehen und fühlt sich etwas töricht. Sie lächelt, als ihr die Blätter übers Gesicht streichen, streckt ihre Finger nach den Zweigen aus, die nach ihr zu greifen scheinen. Das Lied klingt erstaunlich deutlich für die Jahreszeit, in ihren Ohren und in ihrem Herzen.
    Das gestrige Gespräch mit dem Lebensbaum hätte sie viel früher führen sollen. Zugegeben, das Bewußtsein das er sich ihr zuliebe abgerungen hatte war immer noch nichts was sie wirklich verstehen konnte und die Hälfte der Antworten, die er ihr zu geben versucht hatte machten für ihr sterbliches Hirn überhaupt keinen Sinn, aber das war in Ordnung. Letztlich lief es nur auf eines Hinaus:
    `Bist du der Hüter?`
    `Ich bin der Hüter.`

    Ich bin die Hüterin des singenden Waldes. Es gibt niemanden sonst, dem ich diese Aufgabe überlassen will. Ich bin für euch da wann immer ihr mich braucht und solange ihr mich braucht.
    Sie findet ihren Felsen, dieses feuergeschwärzte Bruchstück der steinernen Grundfesten der alten Komturei, der jetzt in Sichtweite der schwach schimmernden Entität steht. Als sie sich setzt und die Augen schließt spürt sie seine Billigung und lächelt wieder. Dann läßt sie sich in die Einheit mit ihrem Wald fallen.

  • Aus Aventurien haben Kassandra und ihre Familie den kurzen Weg durch die Nebel genommen. Der Baum ist auf diese Weise überhaupt nicht zu verfehlen, und in Kassandra taucht der leise Verdacht auf, daß sie auf diese Art möglicherweise nie wieder woanders hin reisen kann als in ihren Wald. Der Baum ist einfach viel zu präsent.
    Da das Gepäck mit Cordobayan den langen Weg genommen hat kommt die Familie nur mit dem was sie am Leib trägt aus dem Wald und tritt fröhlich und erwartungsvoll den Heimweg an.

  • Schon am nächsten Tag ist Kassandra recht früh wieder im Wald. Die Laute auf dem Rücken steht sie dann eine ganze Weile vor dem leuchtenden Baum und kratzt sich am Kopf. Geht einmal drumherum und kratzt sich wieder am Kopf. Seufzt und versucht den ein oder anderen Ast auf dem Boden anders zu rücken. So viele liegen hier ja auch nicht herum.
    Nach noch mehr hin- und hergerücke und nachdem sie auch mal einen anderen Ast aus etwas weiterer Entfernung geholt hat - auch nach 7 Jahren Existenz ist Totholz im singenden Wald noch immer rar - liegen die wenigen heruntergefallenen Ästchen jetzt in einem fast auffälligen Muster am Boden. Sie bilden etwa drei Meter lange Linien die in etwa als zwei konzentrische Dreiecke um den leuchtenden Baum liegen. Beide Dreiecke sind an den Ecken offen, das Äußere so gegen das Innere gedreht, daß seine Seiten die offenen Ecken des Inneren abdecken. Keine Seite berührt die andere, ja, es ist sogar genug Platz, daß eine Person oder ein nicht allzu dickes Einhorn hindurch gehen könnte. Jede der Linien hat irgendwo Berührung mit einem anderen Baum.
    Kassandra betrachtet ihr Werk skeptisch und nimmt dann die Laute auf. Sie wischt rasch noch einmal mit den Fingern über ihr Kleid und beginnt dann das Instrument zu stimmen.
    Aus dem Stimmen wird Summen das sich weiter zum Merseburger Zauberspruch entwickelt.
    Dreimal singt Kassandra das Lied und hängt am Ende jedes Mal einen anderen, kleinen, leichten, unsinnigen Vers an. Dann muß sie sich ausruhen und betrachtet ihr Werk eine Weile.
    Auf den Linien die durch die angeschleppten Ästchen gebildet sind, verankert an einem Baum oder Strauch, stehen drei etwa fünf Meter hohe fast ganz durchsichtige... Gebilde. Fast ganz durchsichtig... durch einen knistert in unregelmäßigen Abständen ein bläuliches Licht, in einem wabert orangener Rauch und das dritte wirkt irgendwie... zerknittert.

  • Noch einmal singt Kassandra Zauberlied und unsinnigen Vers im Wechsel und schließlich ist der direkte Blick auf den Baum von allen Seiten durch diese seltsamen Wände verstellt. Der Zugang zur Entität ist immer noch offen, dessen versichert sich die Schankmaid nachdem sie die Gebilde eine Weile angestarrt hat. Zwei der neuen Wände weisen violette und goldene Schlieren auf. Die dritte ist leider völlig unsichtbar, dafür knattert sie hin und wieder leise vor sich hin. Es klingt als hätten zwanzig Eichhörnchen Flatulenzen.
    Stirnrunzelnd starrt Kassandra durch diesen Wall hindurch. Schließlich versucht sie ihre Gugel darüber zu werfen, doch dafür ist das Gebilde zu hoch. Dagegen geworfene Blätter und Erde bleiben auch nicht haften und schließlich geht sie seufzend noch ein paar Äste suchen, die sie dagegen lehnt.
    Dann tritt sie durch die Öffnungen zum Baum und legt ihre Hand auf seine Rinde.
    *Ich will dich nicht einschließen*, versucht sie ihm zu erklären. *Aber du bist zu laut. Zu hell. Man kann dich auf weite Entfernung sehen.* Wenn man weiß wonach man suchen muß.
    *Das bringt uns in Gefahr...* Dich natürlich nicht. Aber die Stadt schon...
    Eine Weile lauscht sie auf eine Antwort, doch schließlich zuckt sie die Schultern und löst die Berührung mit der Rinde.

  • Recht eilig kommt Kassandra heute Abend von der Nordstraße her, nicht lange nachdem die Konstruktion um den leuchtenden Baum, bestehend aus sechs Energiewällen mit jeweils eingewebtem Firlefanz sich in Wohlgefallen aufgelöst hat.
    Und heute fängt sie nicht sofort nach ihrem Eintreffen damit an, die lustig knisternden, flackernden oder sanft glühenden Gebilde wieder an ihrem gewohnten Ort zu errichten, so wie sie es in den vergangenen Wochen jeden Abend getan hat.
    Sie steht nur in einem gewissen Abstand zum Baum und starrt ihn an.
    "Was machst du da?", fragt sie schließlich.
    Sie erhält keine Antwort, auch wenn sie sich des Eindrucks nicht erwehren kann, daß die leuchtende Pflanze jetzt irgendwie... selbstgefällig wirkt.
    "Du hast verstanden, was ich damit wollte, oder?", fragt sie weiter und geht um den Baum drumrum. Schüttelt ungläubig den Kopf. Grinst dann.
    "Gut, das ist natürlich die einfachste Lösung", nickt sie schließlich.
    "Dann mach mal weiter..."
    Damit tätschelt sie seine Rinde und wendet sich zum Gehen.