Das Leben des Askir

  • Havena ~ Rhetis


    Es war einmal, vor einigen Monaten, in Havena, der größten und wichtigsten Hafenstadt des Mittelreiches an der Westküste des Kontinents Aventuriens und stolzen Hauptstadt Albernias. Dennoch in heutigen Tagen nur noch ein trauriger Schatten seiner einstigen Größe und Macht, nachdem ein großes Seebeben vor über dreihundert Jahren die Stadt verwüstete. Nur sieben Stadtviertel – der Fischerort, die Krakeninsel, die Marschen, Nalleshof, das Orkendorf, der Südhafen und die Boroninsel – überdauerten diese Katastrophe und bilden die heutige Altstadt Havenas. Nach dem Beben erst entstanden die drei neuen Viertel Oberfluren, Unterfluren und Feldmark, welche die Neustadt bilden.


    In Feldmark erwachte Askir. Seine Zunge fühlte sich belegt an und ihm war etwas schummrig zumute. Wohlweislich ließ er die Augen noch geschlossen und versuchte sich zu erinnern, wo er war. Er spürte die sanften Bewegungen der Wellen tief unter sich. Doch nicht in solcher Intensität, wie es auf hoher See der Fall gewesen wäre. Als sich neben ihm etwas regte spürte er nackte Haut auf seiner Haut. Langsam hob er die Augenlider und wandte den Kopf der Person zu, die mit ihm das Bett teilte. Es war eine Frau, deren regelmäßigen Atemzüge darauf hindeuteten, dass sie noch schlief.


    Das Licht des anbrechenden Tages fiel zwischen den Vorhängen in die Kabine. Langsam kehrten die ersten Erinnerungen zurück. Er war auf der Rhetis, einem Vergnügungsschiff mit Speisesaal und Spielsalon, das auch wegen seiner hübschen Bedienungen weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt war. Askir konnte sich noch erinnern, wie er als Junge in den verwinkelten, engen Gassen von Orkendorf davon geträumt hatte auf der Thetis, dem Vorgängerschiff der Rhetis, seine Zeit zu verbringen. Wie viele andere junge Leute, die im schäbigsten Stadtviertel Havenas aufwuchsen mussten, malte er sich die Freuden lebhaft aus. Doch gering nur war die Chance, dass einer von Ihnen jemals das Geld hat, um überhaupt an Bord gelassen zu werden.


    Aber er hatte es geschafft! Von seiner schnellen und überstürzten Abreise aus Havena (und dem Ändern seines Namens), dem Herumziehen mit Zahoris, der Begegnung mit einer Pressgang an der Küste des Horasreiches und etlicher Götterläufe auf See war ihm Phex die vergangenen fünf Götterläufe sehr gnädig gewesen. Anteile an etlichen Tavernen nannte er indessen sein Eigen und sein Glück hatte ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht. Nach seiner letzten Rundreise durch die Tavernen der “Humpen-Barone” hatte er ausreichend Münzen, um eine Reise mit längerem Aufenthalt in seiner Geburtsstadt anzugehen. So war er nach vielen Götterläufen nach Havena zurück gekehrt – und hatte sich gestern seinen Traum erfüllt. Er hatte auf der Rhetis gespeist und gespielt. Der hübschen Frau an seiner Seite nach zu urteilen auch noch etwas mehr.


    Für den Sohn einer Hure aus Orkendorf hatte er es weit gebracht. Weiter gebracht, als er es ohne richtige Arbeit, ohne Schweiß für möglich gehalten hätte. Auch wenn sein Geld langsam zur Neige ging und es an der Zeit war wieder in seinen Tavernen vorbei zu schauen. Doch er wusste, wie schnell das Leben vorbei sein konnte. Viele hatte er schon gesehen, die mit einem Dolch zwischen den Rippen in der stinkenden Gosse verendeten, während die Taschen auf Links gedreht wurden. Auf die Boroninsel oder zu Efferd konnte man all sein Geld nicht mitnehmen. So spricht Nichts dagegen das Leben zu genießen, so lange man es kann. Wie auf das Stichwort regte sich die Frau neben ihm und drehte sich zu ihm um. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen und mit einem neckischen Augenaufschlag fuhr ihre Hand zwischen seine Beine.


    Einige Zeit später lehnte Askir sich zurück und seufzte, während die Frau ihren Kopf an seine Schulter bettete. Sie begann mit seinem Brusthaar zu spielen. “Ich hoffe der Besuch auf der Rhetis war ganz nach Deinem Geschmack, Kapitän.” Askir legte die Stirn in Falten, als er nach einem Funken Ironie in ihrer Stimme suchte. Doch die Worte schienen ernst gemeint. Langsam begann eine weitere Erinnerung an den vergangenen Abend in seinem Geist Gestalt anzunehmen. Der Mann blickte neben sich und neben seinen Sachen, die neben dem Bett lagen, entdeckte er das Pergament. Die Überschreibung an Eigentum, die ein Kaufmann ihm gestern für seine Spielschulden ausgestellt hatte. Phex war ihm auch gestern im Spielsalon wieder zugetan gewesen. Ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab.

    "Das sicherste Mittel, arm zu bleiben, ist ein ehrlicher Mensch zu sein." (Napoleon)

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  • Havena ~ Nalleshof


    Nach einem Frühstück auf der “Rhetis” hatte sich Askir von der Kurtisane, dessen Name er schon längst wieder vergessen und keine Bedeutung für ihn hatte, verabschiedet, bevor er sich auf den Weg in die Stadt gemacht hatte. Dafür überquerte die Prinzessin-Emer-Brücke, die mit zwanzig Schritt Höhe und einer Länge von zweihundert Schritt die größte Brücke Aventuriens ist, zum Stadtteil Unterfluren. Mit beschwingtem Schritt, eine Hand am Pergament in seiner Tasche, schlenderte er durch die Straßen in Richtung Efferd.


    Es dauerte seine Zeit, bis er an der Brückstraße anlangte – die wohl seltsamste Straße der ganzen Stadt. Auf der einen Seite liegen die wunderschönen Villen von Unterflur, auf der anderen Seite die kleinen, verwinkelten Gassen von Nalleshof. In einer dieser Tweten führten seine Schritte und mit jedem Schritt roch es mehr nach Salz und Meer. Denn diesen Stadtteil durchweht der ihm so bekannte Hauch von Seefahrt und Abenteuer. Schon jetzt, am Tage, dringt der Lärm der fröhlichen Zechern, zumeist Seefahrer, die ihre Heuer auf den Kopf hauen, hinaus in die Gassen. Selten dringt ein Sonnenstrahl auf den Weg, denn die Giebelhäuser stehen hier dicht aneinander gedrängt.


    Plötzlich wurde vor ihm eine Tür aufgestoßen und ein Mann flog vor seine Füße. Noch während dieser sich sich aufrappelte drangen weitere Männer und Frauen aus der Taverne hinaus. Einige stürzten sich auf den Mann, andere suchten diese davon abzuhalten. Kurzentschlossen machte Askir einen Satz zurück – als ehemaliger Matrose wusste er nur zu gut, wie schnell man selbst als eigentlich Unbeteiligter in eine solche Tavernenschlägere (auch oder gerade wenn sie auf der Strasse ausgefochten wurde) hineingezogen werden konnte. Anhand von Wortfetzen, in Wut und Zorn geschrieen, konnte er schnell herausfinden, dass sich einige Matrosen wohl abfällig über die “Havena-Bullen” geäußert hatten. Und sowas konnte ein Imman-Anhänger aus Havena natürlich nicht auf sich sitzen lassen.


    In gebührendem Abstand betrachtete Askir die Schlacht, die mit Fäusten, Tonkrügen, Flaschen und Holzknüppeln (Belegnägel wie Stuhl- und Tischbeine) ausgetragen wurde. Doch natürlich war er nicht allein, denn ein solches Spektakel zieht immer viele Schaulustige an. Schaulustige, welche den Kampf bewerteten und kommentierten. Aber auch Schaulustige, die freudestrahlend (und oft schon etwas angeheitert) der einen oder anderen Seite beistehend in den Kampf eingriffen. Einige Wenige sogar, die sich einfach ins Getümmel stürzten und auf jeden eindroschen, der in die Reichweite ihrer Fäuste gelangte, ohne sich um den Grund des Streites oder irgendwelcher Parteien zu sorgen. Kein Wunder, dass bald die Anzahl der Streiter erheblich gewachsen war.


    Ohne Interesse in die Prügelei hinein gezogen zu werden – vor allem nicht mit dem Pergament in seiner Tasche – entfernte sich Askir unauffällig und zog sich in eine Seitengasse zurück. Sicher eine der engsten Gassen des Viertels, wie es Askir schien. Nicht mehr als ein Trampelpfad im Zwielicht zwischen zwei Häusern. Wäre er in Orkendorf gewesen hätte es ihn sicher besorgt, doch er war in Nalleshof. So setzte er seinen Weg in Richtung Hafen fort – als ihn ein kräftiger Schlag auf den Kopf in die Dunkelheit sandte …

    "Das sicherste Mittel, arm zu bleiben, ist ein ehrlicher Mensch zu sein." (Napoleon)

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  • Havena ~ Orkendorf


    Sein Schädel brummte, als er aus der Ohnmacht erwachte. Kaum fähig einen klaren Gedanken zu fassen drückte er seine Hände an die Schläfen. Rhys. Ja, das war sein Name. Oder Askir. Es fiel ihm schwer sich zu konzentrieren. So schloss er trotz der nächtlichen Dunkelheit wieder die Augen und suchte erstmal zur Ruhe zu kommen und seine Gedanken zu ordnen. Beginnend mit einer Bestandsaufnahme und einer eigentlich einfachen Frage: Wo bin ich? Es roch nach Unrat und Fäkalien. Der Untergrund, auf dem er saß fühlte sich nach Schlamm an, durch den sich ein Rinnsaal fraß. Eine Erinnerung tief in seiner Erinnerung begann sich zu regen. Orkendorf!


    Orkendorf. Das Stadtviertel Havenas, in dem er geboren wurde. In dessen schmutzigen Gassen er aufwuchs und bis zum heutigen Tag nicht mehr zurück gekehrt ist. Nicht an diesen Ort dunkler Erinnerungen an Hunger, Dreck und Leid. Nirgendwo in Havena sieht man solches Elend und solche Armseligkeit wie hier. Jeder kippt seinen Unrat gleich vor seine Tür und der üble Geruch steigt einen sofort in Nase und Kleider. Wie Bettler sehen die in Lumpen gekleideten Menschen aus.


    Jetzt, im Jahr 1036 BF, war er nach über zwanzig Jahren wieder an den Ort seiner Geburt zurück gekehrt. Aber nicht freiwillig. Denn freiwillig hätte er nie wieder Orkendorf aufgesucht. Das Stadtviertel, in dem seine Mutter als billige Hure für jede noch so wertlose Münze die Beine breit gemacht hatte. Hier hatte er als Kleinkind in der verschmutzen Kammer unter einem Dach gelebt, wenn sie ihn nicht mit zum Betteln nahm. Als er zu alt war, um noch Mitleid zu erregen, hatte sie sich wieder der Hurerei hingegeben und ihn hinaus geworfen.


    In den Gassen hatte er sich mit Hunden, Katzen, den anderen vor Schmutz starrenden, hungernden Kindern und den allgegenwärtigen Ratten um jede fortgeworfene, verschimmelte Brotkante gestritten. Klein und schmächtig, wie er damals war, hatte er öfters den Kürzeren gezogen. Nur mit List und Tücke und ein wenig Glück hat er diese Jahre überlebt. Hatte sich einer Bande angeschlossen, hatte gestohlen und geraubt – und wenn es nur ein paar Schuhe waren, deren Leder man kauen konnte. Es waren bittere Erinnerungen an eine Zeit des Leids, der Entbehrungen und der Gewalt, die über ihn hinein brachen.


    Er war wieder dort, wo alles begonnen hatte. Er saß in einem von menschlichen und tierischen Ausscheidungen belegten Rinnsaal in einer Gosse in Orkendorf. Seiner Kleidung, die er sich vor wenigen Wochen erst hatte neu schneidern lassen, war er beraubt. Nur noch mit einer Bruche und einem Leibhemd bekleidet fröstelte es ihn in der kühlen Nachtluft. Er tastete an seinen Hals und merkte, dass man ihm nur seine zwei Amulette gelassen hatte: Die Mondsichel, der er vor Jahren beim Sturmfest in Amonlonde von Lilium erhalten hatte, und das Zeichen des Blauen Lagers der Drachenlande. Langsam erhob er sich und taumelte – noch etwas benommen – gegen eine Wand. Unter den nackten Füßen fühlte er, dass er in einen klebrigen und stinkenden Haufen hinein trat.


    Er blickte zu den über ihn aufragenden Hausfassaden hinauf. Zu den Gebäuden, die noch aus der Zeit vor dem Großen Beben stammen. Einige von ihnen eigentlich stark einsturzgefährdet, andere nur notdürftig abgestützt. Sie sind alt und eng, manchmal drei oder mehr Stockwerke hoch. Von seinen Betrachtungen wurde er durch eine Gestalt gerissen, die sich nur wenige Schritte von ihm entfernt um die Häuserecke drückte. Eine Gestalt in Lumpen, die ebenso überrascht zu sein schien, als sie fast mit ihm zusammen stieß. Aus zusammengekniffenen Augen in einem Gesicht, das vom Leben gezeichnet ist, blickte der alte Mann ihn an. Dabei stützte er sich schwer auf eine Krücke, da ihm der rechte Unterschenkel fehlt. Ein krächzendes Lachen war zu vernehmen.


    “Ha, Kumpel, wolltest wohl ein Abenteuer erleben hier in Orkendorf. Hat Dir das Abenteuer gefallen?” Das Grinsen des Mannes entblößte eine Reihe von Zahnstümpfen. Askir blickte ihn angewiedert an. “Es war knorke.” Worte, die von Ironie trieften und ein weiteres krächzendes Lachen zur Folge hatte. “Was springt für mich raus, wenn ich Dir den schnellsten Weg ins nächste Stadtviertel zeige? Dem alten Jast kannst Du vertrauen, Kumpel.” Er tippte mit seiner Krücke an Askirs Bauch, während er auf seinem verbliebenen Bein balancierte. “Denn mit Deinem wohlgenährten Bäuchlein wirst Du hier sonst ganz schnell ein Festmahl für die Ratten.” Askir blickte dem Alten tief in die Augen und irgendwo in seinem Inneren regte sich eine Erinnerung. “Du bist der Jast vom Krähennest, nicht wahr?


    Jetzt war es an dem Alten die Augen zusammen zu kneifen. “Bin da früher oft gewesen und hab’ für Ordnung gesorgt, bis so ein Verrückter meinte mich mit seiner Axt fällen zu müssen. Aber das ist schon lange her, Kumpel.” Die Vorsicht in den Augen des alten Jast war selbst in der Dunkelheit nicht zu übersehen. “Wer bist Du, Kumpel?” Das Gesicht des Alten rückte etwas näher an Askir heran, so dass dieser den fauligen Atem riechen konnte. “Ich bin A…” Er zog tief die stinkende Luft von Orkendorf ein. “Rhys. Mein Name ist Rhys.”

  • Havena ~ Rhys


    “Rhys. Mein Name ist Rhys.” Der alte Jast legte die Stirn in Falten und man vermochte zu sehen, dass er angestrengt in seinen Erinnerungen kramte. Dann entblößte ein Grinsen ein weiteres Mal seine Zahnstümpfe. “Doch nicht der Balg von der Metze Igraine, oder?” Rhys, der kurz nach seinem überstürzten Aufbruch aus Havena den Namen “Askir” angenommen hatte, lächelte. “Du scheinst Dich also an mich zu erinnern, Jast. Dann bin ich wohl doch noch nicht ganz vergessen.” Der Alte zwinkerte ihm zu. “Wie könnte ich. Habe Keinen der Bande vergessen, die jede Woche im Krähennest den Selbstgebrannten abgeholt habt, damit der Taverne nix passiert. Das efferdseitige Orkendorf war Euer Gebiet.” Rhys nickte langsam.


    Alte Erinnerungen an die Bande von Straßenjungen, denen er einst angehört hatte, kehrten zurück, nachdem sie lange begraben waren. Als Kind überlebte man in der Gosse von Orkendorf nur, wenn man sich einer der vielen Banden anschloss, die sich bemühten durch Diebstahl, Raub und Schutzgelderpressung zu überleben. So hatte sich auch Rhys einer solchen Bande angeschlossen. Was ihm an Kraft gefehlt hat, hat er durch Köpfchen ausgeglichen und war schon bald ein wichtiges Mitglied der Bande geworden. Einer erfolgreichen Bande, die sich nach einem Fisch aus dem Meer der Sieben Winde, der als nutzlos und merkwürdig gilt, die “Knurrhähne” genannt hatte. Schon nach einigen Jahren hatten sie einen Teil von Orkendorf unter ihre Kontrolle gebracht und es damit besser gehabt, als viele Andere, die in der Gosse leben mussten.


    Doch bei der Anzahl der Straßenjungen und der Banden war (und ist) der Kampf ums Überleben auch immer ein Kampf gegeneinander. Lange konnten sich die “Knurrhähne” gegen die anderen Banden behaupten. Doch irgendwann bildete sich in einem Teil der Fürstenstraße eine neue Bande, welche dort aber keinen Fuß fassen konnte und in das “Reich” der “Knurrhähne” eindrang. Diese konnten ihren Teil “Orkendorfs” lange verteidigen, doch im Winter des Jahres 1012 oder 1013 BF stöberten die Feinde, welche sich “Fürstensöhne” nannten, etliche Anführer von Rhys’ Bande auf und stachen sie ab. Schon wenig später zerfielen die “Knurrhähne” und es begann eine regelrechte Hetzjagd auf die Überlebenden.


    Damals hatte Rhys sich entschlossen, dass es gesünder wäre die Stadt zu verlassen und war entlang des großen Flusses geflohen. Irgendwo an dessen Ufer war es auch, dass er ein einzelnes Grab entdeckte, auf dem auch der Name des (vermeintlich heldenhaften, aber) toten Inhabers zu lesen war: Askir. Er hatte diesen Namen angenommen und war seitdem nicht mehr nach Havena zurück gekehrt. Bis er vor einigen Wochen entschieden hatte hier “Urlaub” zu machen – im Rückblick betrachtet eine seiner weniger glorreichen Ideen, wie er zugeben musste.


    “Ich glaube ich brauche etwas zum Anziehen”, stellte Rhys lakonisch fest. Die Nacht wurde nicht wärmer und es fröstelte ihn. Der alte Jast nickte grinsend. “Dann mal viel Erfolg bei der Suche, Kumpel. Kennste ja: Hier hat Keiner was zu verschenken. Aber wenn Du was findest komm’ doch morgen mal im Krähennest vorbei, bin da immer noch jeden Abend.” Er blickte sich um und wurde der aufziehenden Morgendämmerung gewahr. “Ich mach’ mich jetzt aber mal, sonst muss ich mir wieder das Geschrei meiner Alten antun.” Langsam wandte Jast sich zum gehen. “Und vergiss nicht, Kumpel: Am Abend im Krähennest.” Rhys blickte ihm hinterher, ohne was zu sagen. Der Alte verschwand hinter der nächsten Häuserecke und noch länger war das “TackTack” seiner Krücke und seines Holzbeins zu vernehmen.


    Im Schatten der Häuser, am Straßenrand haltend verließt auch Rhys den Ort, an dem er aus seiner Ohnmacht erwacht war. Es waren noch einige wenige Leute unterwegs, die aus den schlechten Kneipen oder schäbigen Bordellen des Viertels nach Hause zurück kehrten. Bald dürften aber auch schon Jene aufbrechen, die irgendwo einem mehr oder weniger ehrbaren Tagwerk nachgingen. Rhys musste sich beeilen, wenn er noch im Zwielicht der Dämmerung Kleidung organisieren wollte. Er wurde schon langsam nervös, als ihm ein betrunker Jüngling ins Auge fiel, der hinter einer Tonne seinen Rausch ausschlief und in etwa seine Größe hatte. Ein Besen, der an einem Hauseinang lehnte, diente Rhys als Waffe. Zur Sicherheit zog er ihn dem Betrunkenen über den Schädel.


    Not kennt kein Gebot, dachte sich Rhys, als er den nunmehr Ohnmächtigen entkleidete. Die Klamotten stanken erbärmlich und waren sicher schon lange (wenn überhaupt jemals) gereinigt worden. Er wollte gar nicht darüber nachdenken, wie viele Untermieter in den Stoffen aus Leinen und Wolle wohl wohnhaft sind. Schuhe hatte der Mann am Boden keine, doch zumindest trug Rhys nun eine Hose, ein Wams und eine kurze Jacke sowie eine Mütze. In Lumpen gekleidet, die vor Schmutz und Dreck eine ganz eigene Steifigkeit aufwiesen und nach Schweiss, Alkohol und Fäkalien stanken, setzte er seinen Weg fort. Zeitgleich durchwühlte er die Taschen und fand drei Kupfermünzen sowie ein kleines Messer. Nichts Besonderes und als Waffe nur sehr improvisiert zu benutzen, aber besser als Nichts.


    Mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen dachte er an die letzte Nacht zurück, die er in den Armen einer Kurtisane auf dem Vergnügungsschiff Rhetis verbracht hatte. Nachdem ihm Phex, wie die letzten fünf Götterläufe, wieder einmal Glück gebracht hatte. Doch genau dieses Glück hatte ihn jetzt verlassen. Plötzlich. Wortwörtlich auf einen Schlag. Auch wenn er als “Humpen-Baron” noch immer Anteile an mehreren Tavernen hielt, half ihm das hier in Orkendorf wenig. Was nutzte es ihm, wenn er nicht mal genug Geld hatte, um eine Passage nach Dargaras oder nach Daynon oder in eines der anderen Länder mit einer seiner Tavernen zu bezahlen? Nein, er war wieder ganz unten angelangt. Phex hatte ihn wohl verlassen. Seine Stirn legte sich ob dieses Gedankens in Furchen. Er blieb mit diesem Gedanken an einer Straßenecke stehen und blickte auf das Haus gegenüber, das ihm seltsam bekannt vorkam.

  • Das Haus aus Backstein war heruntergekommen und baufällig, wie er es in Erinnerung hatte. Schon vor dem Großen Beben aus Backsteinen erbaut lehnte es sich träge an das Nachbargebäude und wäre ohne dieses wohl eingestürzt. Die Fensterläden hingen, wenn sie überhaupt noch existierten, schief in ihren Aufhängungen. Aus den Fenstern hing die Wäsche aus Lumpen, die Fensteröffnungen selbst waren mit Tüchern abgehangen, um die Kälte draußen zu halten. Einige Stellen ließen noch erahnen, dass das Gebäude zu längst vergangenen Zeiten verputzt gewesen war. Das dunkle Loch des Eingangs zog Rhys fast magisch an.


    Er presste die Lippen zusammen. Just in dem Augenblick entleerte ein Orkendorfer aus dem Haus über ihm die nächtliche Notdurft auf die Straße – und auf Rhys, der genau in der übelriechenden und ekligen Dusche stand. Angewiedert schüttelte er sich und verfluchte seine aktuelle Situation. Er streifte die letzten Reste menschlicher Ausscheidungen von seiner Schulter und rieb sich seine Hände an der nassen Hose ab. Sein Blick fiel ein weiteres Mal auf den Eingang des Hauses gegenüber. Und bevor noch Jemand seinen Nachttopf auf der Straßen entleeren konnte überquerte er schnellen Schrittes die Straße und trat – durch eine nur noch notdürftig mit Brettern zusammen gehaltene Türe – in das Haus ein.


    Die Wände starrten vor Schmutz und Schimmel. Überall war die klamme Feuchtigkeit sichtbar, während er die Treppe hinauf stieg. Auf jedem Treppenabsatz mehrere Türen, die in kleine Räume führten, in denen oft sogar eine ganze Familie mit mehreren Kindern auf engstem Raum lebt. Den Stiegen folgte er bis zum Treppenabsatz unter dem Dach. Auf dem Podest hatte sich eine Pfütze gebildet und durch die Dachschindeln konnte man den immer heller werdenden Himmel erkennen. Es war eines der üblichen Wohnhäuser in Orkendorf. Löcher, in denen Menschen hausten, die das Glück hatten die Nächte nicht in Hauseingängen, unter Torbögen oder unter einem notdürftigen Dach aus einem Stück Stoff verbringen zu müssen.


    Rhys blickte auf eine der Türen, die vom höchsten Podest der Treppe abgingen. Die Spuren der Zeit waren auch an ihr nicht vorüber gegangen und an den Rändern begann das Holz unter einer dünnen Schicht von Schimmel zu verfaulen. Kurz zögerte er, bevor er sich ein Herz nahm und auf die Tür zutrat. Nach einem kurzen Druck auf den Knauf sprang sie auf, denn das Schloß war schon längst ein Raub des Rostes geworden. Modriger, abgestandener Geruch wehte Rhys entgegenen, während die Flamme einer Kerze neben dem Bett zu flackern begann. Eine alte Frau setzte sich langsam im Bett auf und ihr Kopf ruckte zur Tür hinüber.


    Sie kniff ihre Augen zusammen und ihre keifende Stimme fuhr durch den Raum. “Kannste nich’ anklopfen?” Die Alte zuckte mit den Schultern. “Was solls, bin eh’ noch wach.” Sie trampelte ihre wollene Decke zum Fußende des Bettes. “Kannst schon mal das Kupfer auf den Tisch legen.” Die Metze schwang ihre Beine aus dem Bett und stelle sich hin. “Mach’ schon, ich hab’ nicht den ganzen Tag Zeit.” Während Rhys noch in der Tür verharrte und entgeistert die Alte anstarrte, zog sie ihren dreckigen Rock bis zur Hüfte hinauf. “Zieh schon Deine Hose aus und komm’.”


    Angewiedert verzog Rhys das Gesicht und drehte sich auf der Ferse um. Wortlos stürmte er die Treppe hinunter, während die keifende, verärgerte Stimme der alten Metze ihn verfolgte. Erst als er aus dem Haus auf die Straße getreten war hielt er inne. Mit dem Rücken lehnte er sich gegen die Wand und atmete tief durch. Er weiß selbst nicht, wieso er dieses Dachzimmer aufgesucht hatte. Was ihn geritten hatten zu dieser Frau zu gehen. Zur Metze Igraine, die ihn einst geboren hatte.

  • Der Tag war schon angebrochen, als Rhys auf nackten Füßen durch den stinkenden Morast der Gassen von Orkendorf stolperte. Es war als würden die Erinnerungen aus den ersten etwa fünfzehn Götterläufen seines Lebens, die er versucht hatte zu vergessen, innerhalb weniger Stunden zurück kehren und auf ihn einschlagen. Wie ein Hammer, welcher ein Schmied auf einen Amboss hämmert. Auf einer Treppe ließ er sich nieder und sein Blick schweifte über die sich zusehendes belebende Straße.


    Er sah die Alten, die im Müll nach Verwertbaren, vielleicht sogar Essbarem suchten. Er sah die ärmlichen Handwerker, wie Schuhputzer und Tagelöhner, die auf dem Weg waren, um eine erbärmliche Arbeit für den Tag zu suchen. Er sah die Frauen, die am Brunnen veralgtes Wasser schöpften, um damit den gröbsten Dreck aus ihrer Wäsche zu waschen. Er sah die Bettler, die in Richtung Oberflur schlurften, um dort den einen oder anderen Heller der Barmherzigkeit zu erbitten. Er sah die (meist) unfähigen Bader und Scharlachtane, die den Kranken ihre Dienste anboten. Er sah die Kinder, die im Schmutz der Straße und den Fäkalien im Rinnsaal nach verlorenen Münzen und ähnlichem suchten. Er sah die stolzierenden Jugendlichen, denen eine Bandenmitgliedschaft eine vermeintliche und trügerische Sicherheit versprach.


    Er sah Menschen, die sich in ihrem Leid und Elend suhlten, bis sie nach einem unglücklichen und hoffnungslosen Leben an Krankheit, Alter oder durch einen Dolch im Rücken verstarben. Dabei gibt es doch Nichts, was sie hier hält. Niemand hindert sie daran die Stadt zu verlassen und auf dem Land Albernias ihr Glück zu suchen. Niemand verbietet ihnen zum Hafen zu gehen und beim erstbesten Schiff anzuheuern, um an fernen Gestaden ein neues Leben zu beginnen. Niemand steht ihnen im Wege, wenn sie sich die Freiheit nehmen und einfach aufbrechen würden. Woanders hin. Denn überall ist es besser als hier. Doch sie bleiben.


    Ob soviel Dummheit und Feigheit schüttelte Rhys sein Haupt. Nur zu gut wusste er, dass außerhalb von Orkendorf eine Welt darauf wartet erobert zu werden. Dass man woanders besser leben kann als hier. Er ist aufgebrochen. Doch nur durch die Not getrieben, wie ihm einfiel. Er hatte Orkendorf nicht verlassen, weil er sich woanders ein besseres Leben erhofft hatte. Er war geflohen, weil ihm hier der Tod gedroht hatte. Davor war auch er nie auf den Gedanken gekommen dieses Stadtviertel zu verlassen, dass er woanders hin konnte. Dummheit? Unwissenheit? Faulheit? Was auch immer es gewesen war, er konnte es nicht genau benennen. Doch jetzt wusste er um die Welt, die hinter den Grenzen von Orkendorf und hinter den Stadtgrenzen von Havena lag.


    Man musste nur aufbrechen. Einen Schritt vor den Anderen machen. Die große Reise wagen. Neugierig sein auf das, was hinter der nächsten Wegbiegung liegt. Erforschen, was sich unter der Kimm befindet. Sich an der Freiheit erfreuen, wenn das Schiff unter vollen Segeln neuen Zielen entgegen strebt. Frei zu sein an einer Weggabelung selbst zu entscheiden, welcher Straße man folgen möchte. Auf seinen Bauch hören und seinem Herzen folgen. Denn irgendwo da draußen vermag man das Glück zu finden. Das Glück frei zu sein. Und natürlich auch die eine oder andere Münze.


    Ein seltsames Lächeln lag auf Rhys’ Lippen, während er zu den Kindern hinüber blickte, die in den Abfällen und dem Schlamm nach ihrem Glück suchten. Und natürlich nach der einen oder anderen Münze.

  • Ruckartig stand Rhys auf, um sich selber aus den Gedanken zu reißen. Doch diese ließen ihn nicht los und ihr Nachklang schien ihn auf etwas aufmerksam machen zu wollen, was er aber nicht verstand oder nicht zu sehen vermochte. Ärgerlich presste er die Lippen aufeinander. Es schien ihm, als sei in allem eine Botschaft versteckt. Als hätte es einen Sinn, den er einfach nicht begriff. Doch was für ein Sinn soll darin liegen seiner Habe beraubt in stinkenden und dreckigen Lumpen im erbärmlichsten Stadtviertel Havenas rumzustehen?


    Erst das vernehmliche Knurren seines Magens vermochte Rhys aus seinen Gedanken heraus zu reißen. Zu lange schon hatte er Nichts mehr gegessen. Das gute Mahl auf der Rhetis schien eine Ewigkeit her zu sein. Als wäre das in einer anderen Welt oder seinen Träumen geschehen. Doch nur drei Kupfer nannte er sein Eigen. Schon lange war er nicht mehr so arm gewesen. Auch wenn er oft abgebrannt war, wenn er nach einer langen Seereise im Hafen seine Heuer bei den Wirten und Huren gelassen hatte – so war er doch dann wieder aufs Schiff zurück gekehrt, wo er Essen und Trinken bekam. Aber Trübsal blasen machte ihn auch nicht satt und er erinnerte sich an eine Bäckerei, an der in der Nacht vorbei gekommen war.


    Mit dem – wenn auch bescheidenen – Plan im Rücken eilte er die Strassen entlang und suchte dabei den größeren Dreckhaufen auszuweichen. Bald schon erreichte er den kleinen Laden und trat ein. Der Ruß aus dem Ofen hatte die Wände und Decke und alle Flächen dunkel gefärbt. Der Geruch von frischem Brot stieg Rhys in die Nase und für ein Kupfer erstand er einen Laib. Bewusst machte er sich keine Gedanken über die schwarzen Einschlüsse im Brot und wie das Mehl seinen Weg hierhin gefunden hatte. Doch angesichts seines Hungers schmeckte das Brot, das er aß, während er die Straße weiter hinunter ging, köstlich.


    Plötzlich weitete sich sein Blick. Ein großer Platz öffnete sich vor ihm und ging in den Uferanlagen auf. Dahinter waren die Masten etlicher Schiffe zu sehen. Der Gestank von Orkendorf wurde vom Wind, der den Geruch der See mitbrachte, hinfort geweht. Langsam und andächtigen Schrittes überquerte Rhys den Platz, bis er an der Uferkante stand und über das Wasser hinweg sah. Er betrachtete die vielen Schiffe, die Handelsgüter entluden oder einlagerten. Er blickte hinüber auf die Boroninsel (und ein leichtes Schauern lief über seinen Rücken). Rechts sah er den Zipfel von Krakeninsel, während zu seiner Linken Nalleshof lag. Sein Blick folgte einem Schiff, das mit geblähten Segeln der Ausfahrt des Seehafens zustrebte, um seine große Fahrt anzutreten.


    Rhys blickte an seinen Füßen vorbei in das nasse Element, welches sich an der Kaimauer brach. Er atmete tief durch und füllte seine Lungen mit dem Geruch des Meeres, fühlte den Wind, der von der Ferne kündete. Ohne groß darüber nachzudenken griff er in seine Tasche und nahm einen der zwei verbliebenen Kupferstücke hinaus. Kurz wog er ihn in seiner Hand, bevor er die Münze in die kalten Fluten warf. Das Stück Metall verschwand unter der nächsten anrollenden Welle. Leise begann Rhys zu sprechen.


    “EFFerd, Herrscher über Wind und Wogen, auf Deine Gunst bauen wir Menschen an der Küste und auf der See, besonders hier in Havena. Lass mich nicht umherirren auf der stürmischen See des Lebens, zeige mir den rechten Kurs und lass mich nicht auf den kantigen Riffen zerschellen. Gebe guten Wind auf meinen Fahrten, bewahre mich vor schlimmen Unwetter und behüte meine Seele. Du wühlst auf und glättest das Meer. Du machst das Unschiffbare schiffbar. Du löst die Gefesselten. Will darum fortan nicht vergessen zu danken und zu beten.”


    Rhys stand und saß noch am Kai, als die Dämmerung herein brach.

  • Als die Nacht langsam herein brach saß Rhys noch immer auf dem Kai und blickte zu den Schiffen hinüber. Seine Beine baumelten über der Kaimauer und sein Brot hatte er zur Gänze aufgegessen. Es war ruhiger geworden am Hafen, denn die Schauerleute hatten ihr Tagwerk verrichtet. Die Seefahrer, so sie nicht an Bord Dienst taten, waren in Richtung der Schenken von Nalleshof verschwunden. Das Madamal stand als volles Rad über den Dächern der Stadt und tauchte die Nacht in ein silbriges Licht. Diese Stunde nutzte Rhys und glitt erst aus seiner Kleidung, dann an einer in der Mauer eingelassenen Stiege hinunter ins Wasser.


    Das Wasser war kalt und stach wie spitze Dolche in seine Haut. Doch wusch es ihn von all dem Dreck und Schmutz, welches ihn bedeckte, ab. Der Mann holte tief Luft und wappnete sich innerlich, bevor er gänzlich untertauchte. Unter Wasser strich er mehrfach über seinen Kopf, um auch alle Reste der frühmorgendlichen Dusche zu beseitigen. Prustend tauchte er wieder auf. Machte einige Schwimmbewegungen ins Hafenbecken, bevor er merkte, dass selbst diese Bewegungen nicht für ein warmes Badevergnügen ausreichten. Schnell stieg er die Leiter wieder auf den Kai hinauf und schlüpfte mit gerümpfter Nase in die weiterhin stinkenden Lumpen.


    Schnellen Schrittes ließ er den Seehafen hinter sich und strebte den schiefen Häusern und engen Gassen von Orkendorf zu. Nein, er war hier noch nicht fertig. Er wusste selber nicht warum, aber ein Gefühl sagte ihm, dass er noch einen Handel zu begleichen hätte. Schließlich hatte er eine Verabredung. Mit dem alten Jast in der Taverne “Krähennest”. Wie so viele Orte, die er in den letzten Stunden besucht hatte, war er schon seit über zwanzig Götterläufen nicht mehr hier gewesen. Doch immer bewusster wurde es ihm, wie wohlgesonnen ihm das Schicksal gewesen ist, dass er dieses Stadtviertel verlassen hatte. Das ihn auf Aves Spuren hat wandeln lassen. Das ihn mit Phexens Glück gesegnet hatte. Den Göttern sei Dank dafür.


    Direkt an einer Straßenkreuzung liegt die Taverne “Krähennest”, durch deren kleiner Tür Rhys den Schankraum betrat. Einige Stufen führten vom Eingang hinunter in den Raum, in dem schon viele Zecher das Wenige, was sie im Laufe des Tages durch ihre Arbeit als Tagelöhner, Bettler oder Dieb erworben hatten, vertranken und verspielten. Doch es gab auch hier Leute, die arbeiteten: Der Wirt, der Fiddler und die Metzen. In der nur von wenigen Talgkerzen mehr schlecht als recht beleuchteten Raum brauchte Rhys einige Zeit, bis er den alten Jast an einem Tisch ausmachen konnte. Wenig später saß er bei ihm und wurde dessen Zechkumpanen vorgestellt. “Das ist mein Kumpel Rhys. Er ist der Sohn von der Metze Igraine und war früher bei den Knurrhähnen. Ihr erinnert Euch doch sicher noch an die Bande.”


    Ja, sie erinnerten sich noch daran. Oder zumindest taten sie so. Mit Sicherheit war seitdem nicht nur viel Wasser den großen Fluss hinunter ins Meer geflossen, sondern auch viele Banden gekommen und gegangen. Doch beim Bier und immer wieder kreisenden Selbstgebrannten des Wirtes verging die Zeit. Viel wurde erzählt von der guten alten Zeit, die in Rhys Erinnerung auch nicht besser war die Erlebnisse der letzten Stunden. Geschichten wurden zum Besten gegeben, Tratsch und Klatsch kam auf den Tisch, zuweilen erzählte man sich auch von dem einen oder anderen Orkdorfer, von dem man über mehrere Ecken hörte, dass er sein Glück gemacht hätte. Doch Rhys fragte Niemand, was er in den ganzen Jahren gemacht hat, denn hier fragte man nach sowas nicht – schließlich erzählten die Wenigsten gerne und freimütig von ihren Verbrechen oder der Zeit im Kerker.


    Als das Gespräch sich um einen Bekannten eines Sohnes der Tochter von dem Schwager des Mannes, der mal beim Fleischer gearbeitet hat, drehte, der vor einigen Jahren Orkendorf verlassen hatte und jetzt ein reicher Händler in Drôl sein soll, schlug der Mann, der sich als Cet vorgestellt hatte, auf den Tisch. “Ha! Da habe ich doch fast vergessen Euch von Niall zu erzählen. Der wird sicher bald auch ein reicher Händler sein, wie ich gehört habe.” Ungläubig schüttelte Jast sein Haupt. “Der Tunichtgut? Du hast sicher zuviel vom Schnaps getrunken, Kumpel. Der ist doch dumm wie Stroh. Und damit habe ich schon das Stroh beleidigt.” Cet nickte mit Kopf. “Jaja, hast ja recht. Aber so wie er erzählt hat er einen Pfeffersack ausgenommen. Bis auf die Bruche – und das kannst Du wörtlich erzählen.” Jast winkte ab. “Also ein paar Klamotten und vielleicht ein paar Münzen, das wird ihn aber noch lange nicht zum reichen Händler machen, Kumpel.” Cet lächelte ihn mit seinen Zahnstümpfen an. “Das vielleicht nicht, aber er hat auch ein Stück Pergament, das ein ganzes Schiff wert ist.”


    Hatte Rhys soeben noch in seinen bedenklich leeren Krug geschaut, ruckte nun sein Kopf empor. “Was?”, fragte Jast ungläubig. “Ja, wie ich es sage. Aber der Pfeffersack hat wohl gemeint beim Boltan ein so gute Blatt zu haben, dass er sogar sein Schiff in den Pott geworfen hat.” Jetzt schaltete sich Rhys ein. “Und wo findet man diesen … Glücklichen?” Cet, etwas irritiert über diese Frage, deutete mit dem Kopf in Richtung Ausgang. “Das ist der, der gerade geht.” Rhys drehte sich auf seinem Hocker um und blickte in die angegebene Richtung. Er sah wie ein Mann gerade das Krähennest verließ. Ein Mann, der seinen Mantel und seinen Hut trug. Rhys sprang auf und wollte mit den Worten “Entschuldigt mich, aber ich muss los” in Richtung Eingang stürmen. Doch Jast hielt ihn am Ärmel fest. “Wieso denn so plötzlich. Wir haben doch noch viel zu erzählen.” Rhys blickte ihm tief in die Augen. “Es gab kein Boltan-Spiel – nur einen Knüppel aus dem Hinterhalt.”


    Kurz verharrte Jarl, dann zeigte sich ein Lächeln, als er verstand. Er nahm die Hand vom Arm und nickte Rhys zu. “Phex mit Dir.” Dankbar nickte Rhys dem alten Mann zu, bevor er zur Tür eilte. Er riss sie auf und stürmte hinaus die Straße.

  • Vor dem Eingang der Taverne verharrte Rhys nur kurz, bevor er sich auf die Mitte der Kreuzung stellte, um in alle Richtungen zu blicken. Ein gutes Stück weiter die Strasse in Richtung Praios hinunter konnte er noch einen kurzen Blick auf den Mann erhaschen, der seinen Mantel und Hut trug. Er bog nach Links in eine andere Straße ein. Rhys eilte die Strasse hinunter, wobei er sich bemühte schnell zu sein, sich im Schatten der Häuser zu halten und nicht in jedes mit Müll und Ausscheidungen gefülltes Rinnsaal zu treten. Dabei gelang ihm die Schnelligkeit gut, das im Schatten halten mäßig und das Ausweichen selten. Kurz vor der abbiegenden Gasse hielt er kurz an, atmete tief durch und griff das Messer in seiner Tasche fester. Auch wenn es sich dabei nur um ein kleines Alltagsmesser handelte, war es doch besser als Nichts.


    Er spähte um die Ecke, doch war die Gasse augenscheinlich leer. Rhys suchte seinen Atem zu beruhigen und zu lauschen. Doch es war kein Geräusch zu hören, das er direkt mit dem Verfolgten, dem Räuber mit Namen Niall, in Verbindung hätte bringen können. Doch er konnte auch nicht ausschließen, dass sein lautes Atmen während des Spurts oder die klatschenden Schritte seiner nackten Füße die Aufmerksamkeit dieses Nialls erregt hat. Abermals suchte er die Straße, im Besonderen die Schatten ab. Doch jeder Schatten hatte den Umriss, den er haben sollte und nichts Verräterisches konnte er entdecken. Langsam und vorsichtig, das Messer weiterhin in der rechten Hand, betrat Rhys die Gasse, nach allen Seiten spähend. Er hielt sich im Schatten der Häuser, während das Rad des Madamals seine Suche begünstigte. Doch er hatte Niemanden entdecken können, bis er am Ausgang der Gasse, wo sie auf einem großen Platz endete, anlangte.


    Er zog sich wieder etwas in den Schatten der Gasse zurück. Erschöpfung und Frustration lag schwer auf seinen Schultern, so dass er sich mit dem Rücken an eine Wand anlehnte. Er war so nah daran gewesen. An dem Dieb, der ihn so feige von Hinten niedergeschlagen hatte, als er in Nalleshof eine Schlägerei umgehen wollte. Dem Dieb, der ihn nur mit Bruche und Leibhemd bekleidet in einem stinkenden Rinnsaal in Orkendorf niedergelegt hatte. Ihm seine Kleidung, einige seiner Münzen und vor allem die Besitzurkunde, die er im Spielsalon der “Rhetis” gewonnen hatte, genommen hatte. So kurz davor.


    Rhys rutschte an der Wand entlang zu Boden. Kurz hatte Phexens Glück ihm gewunken, als er in der Taverne war. Jetzt hatte ihn ebendieses Glück ihn wieder verlassen. Er hatte fünf gute, glückliche Jahre gehabt, in denen er sich immer weniger Sorgen machen musste. Das Geld ist ihm förmlich zugeflogen und es hatte ihn nur wenig Schweiß gekostet. Rhys presste die Lippen aufeinander, als er sich fragte, was er jedoch als Dank dem Gott des Glücks dafür zurück gegeben hatte. Dem Gott, der all die Jahre den Glücksscheffel mehr als reichlich über ihn ausgeschüttet hatte. Dem Gott, der ihn damals in Galladoorn davor bewahrt hatte zu einem Untoten zu werden, wie es den Ungläubigen erging. Der Gott, der ihn auch mit Lilium zusammen geführt hatte, bevor ein Vogtvikar ihn sogar gefragt hatte, ob er sich in die Kirche einführen lassen wolle. Ein Angebot, auf das Rhys nie eingegangen war, weil es immer noch so viel Leben gab, das es zu genießen galt. So viel Zeit, die mit Genüßen gefüllt werden konnte.


    Rhys erhob sich langsam und blickte zum Himmel empor. So ohne viel Lichter und dunkel war Orkendorf, dass er trotz des Madamals die Sterne gut erkennen konnte. Fast unwillkürlich suchte er die Sternenbilder, die er – auch durch seine Jahre auf See – kannte. Er betrachtete die hell funkelnden, gleißenden Sterne, die für besondere Kostbarkeiten Phexens stehen. Er fragte sich, wie viele der Sterne Menschen waren, die Phex als Händler oder Dieb so gut gedient haben, dass er sie Boron gestohlen und als Stern leuchten ließ. Und ob er vielleicht auch eines Tages …


    Mit leiser Stimme began Rhys zu sprechen. “Phex, himmlicher Fuchs, Händler der Götter, einen Handel schlage ich Dir vor. Schenke mir nochmal etwas Glück und lichte den Nebel in dieser Nacht, so will ich mit meinen Mitteln die Schätze, die Sterne deines nächtlichen Firmaments mehren. Ich brauche Deine Hilfe, um das zurück zu gewinnen, was ich durch Dich erlangt habe. Gib’ Du mir, was ich begehre – dann gebe ich Dir den entsprechenden Preis und meine Anbetung.”


    Noch einige Zeit blickte er zu den Sternen empor, bevor er seinen Blick wieder gen Boden wandte. In den Augenwinkeln wurde er einem Zettel gewahr, der auf einer Haustreppe lag. Langsam erhob sich Rhys und beugte sich zu dem Stück Pergament hinunter. Es war eine Kriegsanleihe des Blauen Lagers, welche bis vor kurzem noch an seinem Hut geprangt hatte. Ein Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen, er blickte wieder zu den Sternen empor. Ein kurzes, dankbares Nicken, dann stieg er die Treppen empor und verschwand im Haus.