Beiträge von Alanis Tatius

    Rieke erschauerte nun doch ein wenig. Ihre sonstige Ruhe kehrte jedoch bald zurück, als sie weiterhin das neu gedrehte Uhrenglas betrachtete. Sie hatte eine geringere Dosis des Derivats gewählt und hatte vor, erst einmal damit weiter zu experimentieren.


    Schließlich entschied sie, dass es genug war, notierte sich noch kurz etwas und stellte das Schälchen mit dem Mondschein auf den Boden, um es Vladim mit dem Schürhaken zuzuschieben, peinlich darauf bedacht, dass er das Eisen nicht zu fassen bekam. Mit Hilfe eines solchen Werkzeugs würde er noch gefährlicher werden, als er es im Moment schon war.

    "Vladim", tadelte sie ihn freundlich. "Reiß Dich bitte zusammen. Die Wirkung des Mondschein lässt nach und es wäre sehr freundlich, wenn Du ein wenig Mitarbeit beisteuern könntest. Konzentrier Dich bitte auf etwas Beruhigendes."


    Rieke hüstelte.


    "Falls es Deine Hände um meinen Hals sein sollten, dann sei es so. Aber wir müssen Dich nunmal von diesem Zeug herunterkriegen und das wird hässlich."


    Das letzte Sandkorn fiel lautlos im Glas.


    "Nochmal fünf Minuten."

    "Soll Dich jemand so lange mit Steinen bewerfen, bis Du vor Zorn das Ende der Welt herbeizauberst?", erkundigte sich Rieke trocken. "Wenn Du schon unter schlimmsten Bedingungen wie dieser Kräuterprobe keinen Hinweis auf magisches Potential gezeigt hast, was genau soll es denn dann hervorlocken?"


    Sie sah auf die Sanduhr, bemerkte Vladims Hin- und Herrutschen und bereitete die nächste, kleinere Dosis "Mondschein" für ihn vor. Dir Stunde war beinahe um.

    "Wo liegt eigentlich Siofra? In Nazair? Oder Offir? Klingt zumindest so."


    Rieke beugte sich interessiert vor.


    "Könnte ein Zauberer herausfinden, ob Du Talent für diese Zeichen hast? Nicht, dass ich einen kenne, aber so viel, wie Du reist -." Sie wedelte vorsichtig mit Vladims Buch, damit es nicht endgültig aus dem Leim ging. "Da muss doch einer dabei sein?"


    Sie legte das Buch auf einen freien Platz im Regal und wandte sich wieder ihrem Hauptexperiment zu - der Analyse von Vladims Blut.

    "Und die Kräuterproben variieren zwischen den verschiedenen Arten der Hexer, korrekt?" Rieke blätterte durch das Buch. "Es gibt ja meinem Wissen nach nicht nur Löwen, sondern auch Wölfe und Katzenhexer."


    Sie neigte leicht den Kopf.


    "Wieso kannst Du nicht zaubern? Wie nennst Du das? 'Zeichen' wirken?"

    "Und das darf ich mir auch ansehen?", erkundigte sich die Alchemistin und warf ihm einen fragenden Blick zu. "Ich muss zugeben, dass ich ein wenig neugierig auf Dein Geschäft bin."


    Sie setzte sich hin, anmutig trotz ihres kräftigen Körpers.


    "Du hast erwähnt, dass Hexer sehr alt werden. Also, ich vermute, sie werden alt, wenn sie nicht gerade von einem Monster zerfleischt werden? An sich ist das ja eine kluge Sache. Monsterjäger werden alt und stärker belastbar als normale Menschen. Welche Deiner Körperfunktionen wurden noch verbessert? Schnelleres Knochenwachstum? Nachtsicht?"

    Rieke aß selbst erst einmal. Sehr manierlich, inklusive eines Leinentüchleins, mit dem sie sich den Mund abtupfte.


    Die Sanduhr rieselte unterdes weiter. Eine halbe Stunde war vergangen und sie war mehr als gespannt, wie Vladim auf das Derivat ansprechen würde.


    Danach ging sie Vladims Buch holen und hielt es erst einmal fest, bevor sie es ihm hinhielt.


    "Ich will nicht unbedingt etwas Persönliches lesen, das Du darin verewigt hast. Aber wenn Su nichts dagegen hast, schreibe ich es mir selbst ab, ich brauche nur die Seitenzahl."

    "Gerne", nickte die Alchemistin. Sie warf Vladim einen grüblerischen Blick zu. "Kannst Du mir die Rezepte aufschreiben und geht das nicht mit den Fesseln? Naja, notfalls kannst Du es mir auch diktieren."


    Auf der anderen Seite der Tür näherten sich leise Schritte. Rieke erstarrte kurz und lauschte, doch als es zweimal klopfte - und dann noch viermal - entspannten sich ihre Gesichtszüge.


    Sie ging zu einem Regal, fischte etwas Geld aus einer Schatulle und schob es durch einen Spalt unter der Tür hindurch. Für einen Moment sah man zwei kleine, dreckige Finger, dann entfernten sich die Schritte so schnell, wie sie gekommen waren


    "Das Essen ist da", verkündete sie und öffnete schließlich umständlich, um einen Sack hereinzuholen. "Jonna hat eine kleine Armee von Enkelkindern. Die sind äußerst hilfreich."


    Die Alchemistin richtete zwei Teller, für sich und Vladim, mit Brot, kaltem Braten und Ziegenkäse, dann schon sie dem Hexer das Mahl hin.

    "Danke", nickte Rieke, äußerst höflich. Zugegebenermaßen schien sie mehr Interesse am Ausgang des Experiments denn an Vladims Wohlergehen zu haben. Aber vielleicht täuschte das auch und sie verbarg ihre Sorge. "Wir werden jetzt wieder den gleichen Zeitraum wählen, der zwischen der Gabe des Fisstechs und des Derivats vergangen ist. Dann werden wir sehen, wie es sich mit der Wirkdauer dieser Dosis des Derivats verhält."


    Sie tippte mit der Schreibfeder ans Uhrenglas.


    "Wir werden noch einige Durchgänge machen müssen. Die Dosis des Derivats verkleinern und dann den Anteil des Albedo. Soll ich Dir eine Decke auf den Boden legen?"

    "Nun ja, offenbar war die Dosis des Derivats zu hoch." Rieke ging zum Arbeitstisch zurück und machte sich erneut Notizen. "Ich habe dem Derivat ein Fünftel Albedo zugegeben. 5 Gramm reines Fisstech versus das Derivat- interessant."


    Sie schrieb weiter.


    "Symptome?", erkundigte sie sich und drehte sie Sanduhr. "Mal sehen, wie lang das vorhält."

    "Hm", machte Rieke. "Interessant."


    Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und machte sich Notizen, die Sanduhr wieder umdrehend, um abzuschätzen, wie lange der Hexer bewusstlos bleiben würde. Sie kannte sich eh wenig mit Medizin aus, daher würde sie nicht helfen können, wenn er seine eigene Zunge verschluckte oder im Wahn abbiss.


    Solange er keine Anzeichen des Erstickens oder starkes Krampfen zeigte, lief noch alles innerhalb normaler Parameter.


    Sie legte den Federkiel nieder und holte sich ihren Hocker, um sich knapp außer Vladims Reichweite darauf niederzulassen und ihn hin und wieder mit dem Schürhaken anzuschubsen.

    Rieke nickte, aber das konnte Vladim nicht sehen. Das Klirren von Bechergläsern begleitete ihn in den Schlaf.


    Die Alchemistin wusste natürlich, dass Schlaf ihre Ergebnisse verfälschen konnte, aber sie brachte es nicht über sich, den Hexer deswegen wach zu halten. Also bereitete sie seine Dosis Derivat auf einem Tellerchen zu und das Fisstech in kleinerer Dosis auf einem Weiteren, falls das Derivat nicht anschlagen sollte.


    Den Schürhaken legte sie auch bereit, bevor sie sich wieder an die Analyse von Vladims Blut machte. Nachdem die Stunde vergangen war, nahm sie den Schürhaken und das Derivat - sie hatte es heimlich "Mondschein" getauft - und stubste den Hexer aus sicherer Entfernung mit dem kalten Eisen an, um ihn zu wecken.

    "Wenn man die Oberfläche sieht - ganz anders", nahm Rieke den Faden bereitwillig auf. Was sollte sie auch zu Vladims Selbstmitleid sagen? Sie hatte mit sich selbst genug zu tun. "Die Universität zieht Gelehrte und Künstler des ganzen Kontinents an. Die Gassen sind sauber, die Häuser prächtig und die meisten Menschen gut gekleidet. Wenn man aber tiefer blickt, ist es genau das Gleiche wie hier. Niemand will Armut oder Elend ins Gesicht schauen. Die Hälfte der Universität ist entweder berauscht oder unfähig, aber dank genügend finanzieller Mittel an den Platz bekommen, an dem sie sich heute befinden. Es ist eine Stadt der Blender. Als würde man einen seidenen Rock tragen, sich aber darunter niemals waschen."


    Sie zuckte erneut mit den Schultern.


    "Wer wirklich klug ist, profitiert von dem schönen Schein. Für einen Hexer vermutlich eine lohnende Umgebung für die schnelle Münze."

    "Nichts ist ewig", antwortete Rieke nüchtern. "Jeden Tag kann etwas geschehen, das aus dem Ewigen etwas endgültig Vergangenes macht. Ich schätze man sollte sich nicht selbst belügen, was das angeht. So lebt es sich besser."


    Mit dem Fingernagel tippte sie gegen das Glas der Sanduhr. Auch wenn es wohl dazu gedacht war, die Zeit zu überwachen, passte die Geste seltsamerweise genau zu dem Thema, über das sie gesprochen hatten.


    "Was ja nicht heißt, daß man das, was man hat, nicht wertschätzen sollte." Rieke hob die Schultern und schüttelte den Kopf. "Tut mir Leid für Dich. Manchmal ist ein Ende besser, als sich jahrelang mit diffuser Hoffnung durchs Leben zu schleppen, dass alles besser wird. Und apropos besser - was machen die Entzugserscheinungen?"

    "Was soll das Kopfschütteln?", erkundigte sich Rieke neugierig. "Bezog sich das auf die Ehe an sich? Heiraten Hexer nicht?"


    Sie füllte ihm Wein nach und benutzte dann eine Pipette, um etwas von dem Blut in eine flache Glasschale zu geben. Es folgten einige Tropfen einer leuchtend gelben Flüssigkeit. Es stank, aber der Geruch war aushaltbar und verflog beinahe sofort.


    "Dein Blut ist interessant", murmelte sie dann. "Als würde ein kleiner Kampf in jedem Tropfen stattfinden."

    "Ich habe mit meinem Mann in Oxenfurt gelebt. Er hat an der Universität gearbeitet und wir sind oft gereist. Es war kein schlechtes Leben", erzählte Rieke und wandte sich wieder ihrem Versuchsaufbau zu. "Der Alltag zwischen schrecklich klugen Leuten macht einen ganz von selbst zum Besserwisser."


    Glas klirrte, als sie ihre Zutaten durchstöberte.


    "Also, Ertrunkenenhirn brauche ich, das hatte ich Dir bereits gesagt. Ich hatte etwas, weil die Dinger immer noch durch die Abwasserkanäle spuken und man auch als Mensch einigermaßen mit Fallenstellen dran kommt. Ghulblut wäre auch gut, um Vitriol zu gewinnen."

    "Du bist ein scheußlich Klugscheißer", gab Rieke gelassen zurück. "Als ob ich aus Bechern trinken würde, die nicht aus Zinn mit Silberanteil sind. Ich habe meine Standards. Aber wenn Du möchtest, kaufe ich Dir einen billigen Becher und Du kannst jemand belehren, der leicht zu beeindrucken ist."


    Heraufordernd zog sie eine Augenbraue hoch.


    "Also, willst Du noch ein bisschen Konversation machen?"

    "Vladim, als ob ich Dich vergiften würde", tadelte Rieke mit einem Lächeln. "Noch hast Du nichts getan, das mich dazu bringen würde - außerdem habe ich Zweifel, daß ich ein Gift finden könnte, das Du nicht bemerkst und das Dich schnell genug tötet, um zu verhindern, dass Du mir vorher noch den Hals umdrehst."


    Sie füllte ihm nach und lehnte sich an den Arbeitstisch.


    "Jonna gehörte das Bordell. Sie hat es an meine Tante verkauft, in der Hoffnung, dass sie es schaffen würde, gut zu wirtschaften und zu verhindern, dass irgendein Kerl das Haus und die Mädchen in die Finger bekommt. Tja - der Suff hat beiden einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jonna blieb, um zumindest noch ein wenig Kontrolle über das zu haben, was sie mal aufgebaut hatte. Sie hat mir auch meine Flucht zu Pieter ermöglicht, als es damals für mich brenzlig wurde."

    Es war mit Wasser verdünnter Würzwein, den sie ihm reichte.


    "Zugegeben, eine nützliche, aber auch kostspielige Anschaffung." Rieke blickte auf die Demeritiumfesseln hinunter und seufzte. "Ich habe alte Verbindungen spielen lassen. Und ein wenig Fisstech in den Umlauf gebracht, um meine Neuanschaffungen zu bezahlen. Das Meiste hier habe ich allerdings Jonna zu verdanken." Ihr Blick wurde warm, als sie von der Köchin sprach. Da sie sonst nicht viele Emotionen zeigt, war das ein klarer Hinweis, wieviel die alte Dame ihr bedeutete. "Sie kennt eine Menge Leute, die wiederum jemanden kennen. Daher hat sie ein paar Gefallen eingefordert."


    Sie trat wieder an den Arbeitstisch und blickte auf das Papier mit Vladims Blut darauf.


    "Interessant", murmelte sie leise und wiegte den Kopf hin und her. "Naja, die Ergebnisse werden noch eine Weile auf sich warten lassen. Ich schlage wirklich vor, dass Du ein bisschen die Augen zumachst."

    In dieser Zeit hatte Rieke die Sanduhr wieder umgedreht und sich weitere Notizen gemacht. Der Blick über den Brillenrand war kühl und kalkulierend, jedes Detail aufnehmend.


    "So", erklärte sie irgendwann fest. "Noch einmal eine Stunde, dann versuchen wir es mit dem Derivat. Wir werden sehen, ob seine Wirkung länger anhält und früher einsetzt und welche Nebenwirkungen sich ergeben."


    Dann entspannten sich ihre angespannten Schultern ein wenig.


    "Möchtest Du essen oder trinken? Aber zu allererst möchte ich die Versicherung, dass Du mir nichts tust, wenn ich Dich dafür losmache."