Beitrag 6

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    Sonja trat auf etwas Weiches, strauchelte und fiel der Länge nach mit einem erschrockenen Aufschrei ins Unterholz. Jemand stöhnte unmittelbar neben ihr, und als sie sich schon fragte, ob sie es vielleicht selbst gewesen war, konnte sie im blassen Licht eine Gestalt ausmachen,- da lag jemand.
    „Beeeeeen!!“ rief sie langgezogen und rutschte erschrocken von dem ausgestreckten Körper weg. Knisternd näherten sich die anderen.
    „Beeen! Hier- liegt jemand!“
    Sie sah einen anderen Schatten sich zu der Gestalt am Boden niederbeugen und kroch wieder näher. Elamar kniete und befreite den Liegenden aus dem Gestrüpp. Sonja betrachtete wie jedesmal fasziniert die geschmeidigen Bewegungen des Elben und konnte wie jedesmal nicht glauben, das die Menschen ein solches Volk aus lauter Neid einfach ausgelöscht haben könnten. Ausgelöscht- bis auf ihn. Und wie jedesmal empfand sie seine Trauer.
    Jano trat aus dem Gebüsch neben Sonja, die sich langsam vom feuchten Boden erhob, ihre Kleider ordnete und sich wieder fester in ihren Mantel wickelte. Sie nahm die Augen nicht von der Szene. „Was ist mit ihm?“ fragte Ben und lies sich neben Elamar nieder, um ihm zu helfen.
    Der Mann am Boden hielt eine Hand auf die Brust gepreßt und stöhnte so leise, daß es kaum zu hören war. Elamar berührte die Hand und wollte sie sanft fortschieben, aber als er die seine wieder hochhob und in einen Lichtstrahl hielt, war sie naß von Blut und das Blut schwarz im Dämmerlicht auf Elamar´s heller Haut. Ben warf dem Elben einen Blick zu, aber der beachtete ihn nicht.
    Der Verletzte wand langsam den Kopf und stöhnte wieder. Er zog die Brauen in dem bleichen Gesicht zusammen wie unter unglaublichen Schmerzen, seine Augen geschlossen. Elamar beugte sich vor, um ihm ins Gesicht zu sehen und stützte ihm den Kopf. Strähnen von hellem Haar klebten blutig auf den Wangen. Die anderen beiden konnten nicht viel erkennen, aber Elamar erschrak und erstarrte ungläubig. Der andere Elb schlug langsam die Augen auf. Aus seinen Augenwinkeln rann Blut, auch aus seinem Mund. Soweit es ihm möglich war, sah auch er mehr als überrascht aus, sein Atem schien sich zu verschnellern, seine Brust hob und senkte sich aufgeregt. Langsam hob er die Hand, die auf seiner Wunde geruht hatte und griff nach Elamar´s. Er schien sogar zu lächeln, dann sprach er mit halb erstickter Stimme ein paar Worte, die Sonja nicht verstehen konnte. Mehr Blut rann sein Kinn hinab. Als Elamar antwortete, begriff sie, daß es eine ganz andere Sprache war; fließend, elegant, sanft und seltsam. Ben wich unwillkürlich zurück.
    Der andere Elb schloß die Augen kurz und seufzte, sehr leise, murmelte etwas. Elamar schien eine Frage zu stellen, der Verletzte antwortete und ließ Elamar´s Hand los. Er griff sich wieder an die Brust, zog unter seinem blutgetränkten Gewand einen Gegenstand hervor, der in ein fleckiges Stück Tuch gewickelt war, und sagte etwas, Elamar legte seine Hand auf die des anderen und blickte betrübt. Dann lächelte der Fremde, flüsterte ein paar letzte Worte und seine Augen erstarrten im Tod. Gebrochen blickten sie zum Himmel auf, das Vergehen all der langen Lebensjahre in die Bedeutungslosigkeit war darin und die Trauer darum. Hier starb ein Wesen, das nicht zum Sterben geboren worden war.
    Keiner wagte sich zu rühren oder zu sprechen, zu fragen, was der Andere gesagt hatte. Es blieb still. Sonja biß sich auf die Unterlippe und versuchte nicht zu heulen. Sie hatte das ungetrübte Gefühl noch nie etwas vergleichbar Trauriges gesehen zu haben. Elamar machte die Augen zu und ließ den Kopf des Toten sinken, sagte leise etwas in seiner Sprache. Dann beugte er sich zu ihm nieder, küßte seine Stirn, nahm ihm das flache Päckchen aus der Hand und steckte es unter sein eigenes Hemd. Er nahm den Toten ohne Schwierigkeiten auf und trug ihn zurück zu der kleinen Lichtung, auf der sie gerastet hatten. Hier grub er ein flaches Grab, beerdigte den Elben und legte einen seiner eigenen Pfeile mit in die Erde.
    Während der ganzen Zeit sprach er kein Wort und ignorierte alles andere. Keiner half ihm zu graben oder den Leichnahm zu tragen und irgendwie hatte Sonja das Gefühl, daß das bewußt keiner tat. Beinahe spürte sie die unsichtbare Mauer um die Szenerie.
    Schließlich richtete der Elb sich auf, nahm sein Gepäck und ging. Er hielt den Kopf gesenkt und breitete dann die Arme aus wobei er die Äste der Bäume links und rechts des Pfades streifte. Schimmernd schüttelten sie den Regen von sich und wuschen dabei die Erde und das Blut von seinen Händen. Die anderen zögerten kurz und folgten ihm dann schweigend, bevor er im Gesträuch verschwand. Jano zog Sonja sanft mit sich, die immer noch auf das Grab starrte.


    Einige schweigsame Stunden später, als die Nacht vollends hereingebrochen war, erreichten sie eine etwas größere Lichtung, wo sie ihr Lager aufschlugen. Nicht, daß in dem Dickicht aus Nadelgehölz, durch das sie seit drei Tagen wanderten, die Tageszeit irgend etwas an dem herbstlich naßkaltem Dämmerlicht geändert hätte. Alle waren wie gerädert; die Haut wund von dem teilweise undurchdringlichen Geäst und durchgefroren vom feuchten Wetter und der zunehmenden Kälte. Es schien, als ob die Temperatur mit jeden Schritt nordwärts weiter sank. Und das war weit unheimlicher als jedes Monster mit dem Sonja in einem Wald wie diesem gerechnet hätte. Was der Grund war, warum sie sich seit sie einen Fuß zwischen die Bäume gesetzt hatte, an dem Dolch festhielt, der ihre einzige Waffe war. Die kurze Klinge war in den zierlichen Händen der kleinen Frau jedoch nicht zu unterschätzen. Und auch ihre ängstliche Natur war nur förderlich für ihr Vermögen, sich mit dem Messer zu verteidigen, als ob sie jede Kraft aus ihrer Angst zog.
    Seit sie vor drei Wochen aus der Feuerfeste und aus der Großen Stadt entkommen waren, hatten sie schon fast die Hälfte ihres geplanten Weges zurückgelegt, ohne eine andere Spur von Elben zu finden als zerstörte Siedlungen und verbrannte Erde. Und jetzt das.
    Elamar hatte kein Wort gesagt seit sie das Grab verlassen hatten, und eigentlich hatte keiner mehr gesprochen seitdem. Jetzt saß er schweigend am Feuer auf einem umgestürzten Baumstamm, und keiner wagte ihn anzusprechen. Fest in seinen Händen hielt er das Päckchen, das er dem Toten abgenommen hatte.
    Ben legte sich schließlich schlafen. Jano war schon vor ein paar Minuten, in seine Decke gewickelt wie eine Raupe, am Feuer eingeschlummert. Nur Sonja blieb sitzen, hoffte ihre klammen Röcke am Feuer etwas trocknen zu können und betrachtete den Elben verstohlen. Sein dunkles Haar reichte ihm inzwischen wieder bis zur Schulter und die Wunde, die der kleine Kotzbrocken ihm auf der Feste geschlagen hatte als er dem Elben das Ohr abschnitt, war verheilt.
    Sie wollte gern etwas sagen, etwas Belangloses wie schönes Wetter heute oder etwas ähnliches.
    „Wer war das?“ fragte sie statt dessen leise. Auf der Hälfte des Satzes aber verlor sie den Mut und verschluckte den Rest der Worte fast.
    Der Elb schwieg. Als sie gerade begann sich schlecht zu fühlen, weil sie ihn gestört hatte, antwortete er: „Ich kannte ihn nicht.“
    Obwohl er nicht verärgert oder abweisend klang, beschloß sie lieber nichts mehr zu sagen. Er sprach selber weiter.
    „Willst du nicht wissen, was er gesagt hat?“ Und dann blickte er auf und sah sie mit diesem ermutigenden Spott an als wisse er genau, was sie dachte. Natürlich wollte sie das wissen!
    „Doch...“ sagte sie und lächelte verlegen. Elamar sah wieder ins Feuer.
    „Er sagte: Ich sehe einen fremden Elben. Das ist mehr, als ich zu hoffen wagte. Und ich antwortete ihm: Und auch ich sehe einen Elben und kann es nicht glauben. Und das konnte ich wirklich nicht. Ich fand einen fremden Elben, um ihn sterben zu sehen.“ Er schien in Gedanken zu versinken. Aber dann erzählte er weiter.
    „So werde ich zumindest von einem Freund begraben. sagte er, und ich dachte schon, ich hätte ihn verloren, ohne nur eine Antwort erhalten zu haben. Ich fragte ihn: Gibt es mehr?
    Wenn sie noch leben, weiter im Norden, der Paß, über den Paß... sagte er und: Wir wurden verraten. Und dann gebot er mir dieses hier an mich zu nehmen.“ Er strich über das Öltuch und schlug es schließlich zurück. Darunter erschien eine kleine, flache und schlicht verzierte Holzschachtel mit silbernen Beschlägen. Das dunkle Holz glänzte matt im Feuerschein, als der Elbenherr mit seinen langen Händen darüber fuhr und seine Blicke darauf verharrten wie in Ehrfurcht. Aber da war noch etwas in seinen unendlichen Augen. Und das war Angst. Und Hoffnung.
    „Mögen die Sterne dich schützen,- die Sterne...“ Seine Stimme verlor sich in einem Hauch, bevor er wieder hörbar schloß: „...und dann ist er gestorben.“
    Ben erhob sich plötzlich im Hintergrund und trat neben Sonja ans Feuer zurück. „Verzeiht, das ich euch zugehört habe. Ich konnte nicht schlafen.“ Jano wachte auf, als Ben an ihm vorbeitrat, gähnte und setzte sich mit einem genervten Seufzen wieder auf.
    Elamar warf ihnen nur einen kurzen Blick zu. Er öffnete die Schachtel und zog einen Stoff von ungefähr 4 Fuß Breite und etwa der doppelten Länge heraus. Das Banner schimmerte hellblau und golden im Feuerschein und war von so zarter Seide gefertigt, das man selbst in dem spärlichen Licht hindurch sehen konnte. Darauf war ein komplexes Symbol aus Sternen, Blättern und einem Baum zu erkennen, Ornamente aus unglaublich feinen Linien durchzogen den Stoff, der spitz zulief und wohl den Boden berührt hätte, wenn Elamar sich nicht erhoben und sich auf den umgestürzten Baum gestellt hätte, um das Banner hochzuhalten. Er hielt den Kopf gesenkt und schien dann Worte in der eigenartigen Sprache der Elben zu murmeln. Es schien plötzlich, als gehe ein schwaches Glimmen von der Fahne aus, als habe sich das Schimmern der Farben verstärkt und brächte nun den Stoff zum Leuchten, als habe man eine Lampe dahinter entzündet. Die Freunde erstarrten und blinzelten, um sicher zu sein, daß sie sich den Anblick nicht nur einbildeten.
    Das Leuchten nahm zu und wurde einen Moment so stark, so daß sich alle ganz sicher waren, daß sie nicht träumten und ein heller Widerschein auf ihre erstaunten Gesichter fiel. Dann verblaßte das Licht langsam, und der Elb richtete sich wieder auf. Er faltete das Banner sorgsam zusammen und legte es in die Schachtel zurück. Dann sah er alle prüfend einen Moment an, als folge etwas von großer Bedeutung.
    „Dieses Banner birgt eine große Kraft.“ begann er fest. „Wenn es wahr ist, und es gibt Überlebende, ist es unsere einzige Hoffnung. Es steht mir nicht zu, euch mehr dazu zu sagen.“ Wieder sah er jeden einzeln an. Ben, dessen mildes Gesicht unter einen Dreitagebart zu verschwinden drohte, hörte ihm aufmerksam zu, seine braunen Augen konzentriert wie immer. Ruhig und sich der Ehre durchaus bewußt, die ihnen soeben erwiesen geworden war, hatte er ohne Frage sofort die Verantwortung, die das Vertrauen des Elben seinem Gewissen auftrug, angenommen.
    Jano dagegen hatte gestaunt wie ein Kind und sah nun ernst drein, ein Ausdruck, den man in seinen jugendlichen Zügen nicht oft antraf. Sein blonder Zopf zerzaust und das Licht in den blauen Augen matt, sah er erschöpfter aus als sonst, und als ahne er bereits, daß ihre Reise wieder an Schwierigkeiten reicher geworden war. Seine Hände spielten gedankenverloren an einem Zipfel des dunkelgrünen Schals, den er so gut wie ununterbrochen trug und nur ablegte, um sich zu waschen. Der Zipfel war bereits reichlich abgegriffen.
    Sonja hörte still und wie verzaubert zu. Elamar fuhr fort, und seine Stimme war so erfüllt von dringender Entschlossenheit, daß es fast die Maske der Ruhe auf seinem Gesicht durchbrochen hätte.
    „Ganz gleich, ob ihr mich begleitet oder nicht, und ich entbinde euch hiermit von eurem Versprechen, dieses Banner muß die Überlebenden meines Volkes erreichen. Ich werde den Paß überqueren.“



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    Es war am zweiten Abend, als sie in eine größere Ortschaft kamen, und es riskierten, sich in einer Gaststätte einzuquartieren. Es hatte aufgeklart, und ein voller Mond stand eisklar am Himmel. Eigentlich waren sie sich einig gewesen, daß sie noch nicht weit genug von der Stelle entfernt waren, an der sie den sterbenden Elben gefunden hatten, um es zu riskieren sich unter Menschen zu zeigen. Es konnte immerhin sein, daß sich immer noch die Soldaten in der Nähe aufhielten, die an dem Überfall beteiligt gewesen waren. Die klirrend kalte Luft hatte sie allerdings sehr schnell zu einem Sinneswandel bewegt.
    Kaum hatten sie sich in der spärlich besuchten Gaststube niedergelassen, betraten fünf Männer den Schankraum, die sich ausgiebig umsahen, bevor sie zu einem Tisch in der Mitte des Raumes stiefelten und lautstark eine Bestellung abgaben. Die Leute, die schon an dem Tisch saßen machten ihnen bereitwillig Platz. Ohne jeden Zweifel Reiter. Ohne jeden Zweifel Soldaten. Und ohne jeden Zweifel aus der Stadt.
    Die Gruppe wechselte besorgte Blicke. Elamar zog sich die Kapuze noch ein Stück weiter ins Gesicht, und alle beugten sich tiefer über ihre Schüsseln mit dampfendem Eintopf.
    Nur Ben schien das nicht richtig mitbekommen zu haben. Er stand plötzlich auf und ging zielstrebig auf einen Fixpunkt in der Schankstube zu. Sonja sah dem kurzhaarigen Hinterkopf des jungen Mannes nach, der einen Mythos gejagt und seinen besten Freund erschlagen, der sein Herz in der großen Stadt gelassen und sich der Erfüllung eines Versprechens gewidmet hatte. Und der für sie unerreichbar war. Sie seufzte innerlich und verfluchte sogleich ihr kindisches Benehmen. Jano senkte den Kopf als habe er ihre Gedanken erraten und seufzte seinerseits in seinen Krug mit der Absicht das Seufzen darin zu ertränken. Wieder seufzte er, diesmal übertriebener und grinste gleich darauf ganz unverschämt, als Sonja ihm einen giftigen Blick zuwarf.
    Hinter einer Person, die alleine zwei Tische weiter saß, blieb Ben stehen.
    „Die Dame.“ sagte Ben streng und legte der zusammengesunkenen Gestalt fest die Hand auf die Schulter der abgewetzten Tunika aus schmutziggrauem Leinen.
    Enyn drehte langsam den Kopf nach ihm um. „Ja bitte?“ sagte sie matt und zog dann ein paar Gedanken später überrascht die Brauen zusammen. Sie grinste müde als Ben um den Tisch herum ging und sich ihr gegenüber setzte.
    „Wie geht es dir?“ fragte er und blickte ihr erwartungsvoll in die Augen.
    „Großartig.“ antwortete Enyn und nahm wie zur Bestätigung, oder auch zum Widerspruch, einen tiefen Schluck von ihrem Bier, von dem sie gewiß schon ein oder zwei Krüge zuviel intus hatte. Neben ihr am Tisch lehnte ein langer Bogen in einem Tragriemen für den Rücken, ein Köcher mit einer Ansammlung verschiedener Pfeile darin, ein kleines Bündel.
    „Du trinkst.“ stellte Ben fest.
    Enyn hob den Krug in die Luft, sah ihn fest an und sagte: „Jawohl.“ Dann leerte sie den Becher und lies ihn geräuschvoll zurück auf den Tisch fallen. Sonja beobachtete besorgt die Blicke einiger der Soldaten, die sich nach Ben und der Frau umsahen. Sie sprachen und lachten dann ziemlich dreckig.
    „Und du?“ fragte Enyn und kratzte sich am Kopf, der dichtes blondes Haar beherbergte, zu einem Knoten gebändigt und mit Lederstreifen festgewickelt. Die Schädelseiten waren kurz geschoren und ein paar löchrige schwarze Federn waren in einer geflochtenen Strähne eingearbeitet. Sie trug verschlissene lederne Hosen, die wohl einmal schwarz gewesen und deren Beine mit Matschspritzern gesprenkelt waren, als sei sie über ein schlammiges Feld gewandert. Alles in allem wirkte sie ein wenig zerzaust, hier und da waren alte Narben und frische Kratzer in ihrem ernsten Gesicht verteilt. Eine schlecht verheilte Platzwunde zierte ihre Augenbraue.
    „Ich flüchte.“ sagte Ben und lächelte schief.
    Die junge Frau lehnte sich zurück und seufzte.
    „Na, dann hat sich ja nichts geändert, was?“
    Inzwischen hatte sich auch Jano zu der Szene umgedreht.
    „Warum ist sie so verletzt? War sie in einer Schlacht?“ fragte Sonja naiv.
    Jano schnaufte spöttisch. „Eine Bierkrugschlacht vielleicht.“ sagte er.
    Ben hob den Zeigefinger und stand auf. Er ging ruhig zur Theke und keiner der Stadtsoldaten beachtete ihn dabei. Mit zwei Bechern Met kam er zurück und schob Enyn einen hin.
    „Auf das ewig Gleiche!“
    Enyn hob eine Augenbraue, nahm den Becher und fügte theatralisch hinzu: „Auf die Langeweile der Ruhelosen!“
    Sie tranken. Dann sahen sie sich eine Sekunde stumm an und brachen schließlich für ein paar Augenblicke in herzliches Gelächter aus.
    „In welches Gebüsch bist du wieder gefallen?“ fragte Ben im Plauderton, deutete auf die Macken in ihrem Gesicht und lehnte sich aufmerksam vor. Enyn winkte ab, „Nur eine kleine Meinungsverschiedenheit. Nichts spezielles.“
    Ben nickte lächelnd. „Es hat sich wirklich nichts geändert.“ sagte er, „Hast du schon eine Unterkunft für heute Nacht?“
    Enyn beugte sich ebenfalls vor und wirkte dabei wie ein vertrauter Saufbruder, der einem einen guten, zwielichtigen Tip geben will. „Ein paar Felder weiter hinter der Stadt gibt es eine sehr gute Feldscheune.“
    „Kannst du empfehlen, ja?“ grinste Ben.
    „Sicher!“ gab Enyn mit gespielter Entrüstung zurück, „Zweifelst du etwa an meinem Geschmack?“
    „Nie,“ versicherte Ben und ging auf das Schauspiel ein, „wie könnte ich!“
    Sie lachten. „Und du?“ fragte sie und wurde unterschwellig etwas ernster, deutete mit einem Kopfnicken auf seine Begleiter, „Und wer flüchtet mit dir?“
    „Besser, du weißt nichts davon.“ sagte Ben, „Ganz wie immer, weißt du?“
    „Ganz wie immer.“ wiederholte Enyn, fixierte ihn noch einen Moment, prostete ihm zu und trank den Becher leer.
    Ben tat es ihr gleich, nickte und stand dann auf, um zu den Anderen zurück zu gehen.
    Kaum hatte er sich erhoben, ging die Tür erneut auf und weitere Besucher traten ein. 6 Mann mit leichtem Gepäck, jeder mit einem langen Bogen und mit einem mit Leder abgedeckten Köcher auf dem Rücken verstaut, kamen ihm entgegen. Sie blickten sich um und schienen guter Laune; dann besprachen sie sich und gingen ruhig zu dem Tisch, an dem Enyn alleine saß. Sie hörten laute Begrüßungen und Gelächter.
    Als das Getümmel sich gelegt hatte, trat Ben endlich zurück zu seiner Runde. Sonja sah ihm verwirrt entgegen. „Wer...?“
    „Langsam wird es wirklich etwas voll hier. Laßt uns bald gehen. Ich habe einen Schlafplatz für die Nacht aufgetan.“ sagte Ben, ohne auf eines der fragenden Gesichter zu achten.


    Sehr spät in der Nacht wurde die knarrende Tür der Scheune aufgeschoben und eisige Herbstluft wehte durch den Spalt herein. Der geräumige Schuppen war im hinteren Teil mit einer zweiten Etage unter dem Dach ausgestattet, der über eine lange Leiter erreicht werden konnte. Hier lagerten ein paar Gerätschaften und Weidenkörbe. Der Rest der Scheune war mit trockenem Stroh vollgestopft, das teilweise in kleinen Bündeln, teilweise in losen Haufen lagerte.
    Enyn blickte ins Dunkel und versuchte etwas zu erkennen. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie ein paar schwarze Flecken schemenhaft im Stroh erkennen. Ziemlich betrunken wie sie war taumelte sie näher auf ihre gewohnte Schlafecke zu, um festzustellen, ob dort schon jemand lag, da spürte sie eine kalte Klinge an ihrer Kehle. Sie erstarrte und war auf der Stelle um einiges nüchterner.
    „Ich bin es, kein Grund zur Panik! Ben?“ sagte sie schnell.
    „Nein.“ sagte eine ruhige Stimme hinter ihr, die zweifellos zu dem Mann mit dem Dolch gehörte, der sich so absolut lautlos an sie herangeschlichen hatte.
    „Ben?“ rief Enyn lauter. Im Stroh raschelte es. „Ben??“
    „Ja?“ kam eine verschlafene Stimme aus dem Stroh, „Enyn?“
    „Ich bin’s. Bitte -“
    Die Klinge verschwand. „Alles klar?“ fragte Ben. Enyn atmete auf und rieb sich mit der Hand am Hals. Ihre Augen suchten immer noch im Dunkel nach dem Angreifer. „Wo bist du?“
    „Leg dich ruhig hin, wir reden morgen.“ sagte Ben müde und drehte sich wieder um. Enyn nickte mit klopfendem Herzen. „Ist gut.“ murmelte sie.


    Enyn lehnte gegen die Scheunenwand und kaute auf einem Süßholzästchen herum. „Morgen!“ sagte Ben und streckte sich. Enyn drehte sich nicht um. „Morgen.“ erwiderte sie und starrte weiter zum Horizont und dem kalten Morgenrot in der Ferne. Das würde schlechtes Reisewetter geben. Ben trat langsam neben sie. Es war kalt, Frost glitzerte auf dem Stoppelfeld um sie herum und Raureifpelze hatten sich über die Äste der verwachsenen Eschen gelegt, die in der Nähe der Scheune standen. Ein paar Nebelkrähen kreisten hier und dort über dem Land und verbreiteten den Klang des Herbstes in der Luft.
    „Hast du gar nicht geschlafen?“ fragte Ben leise und hockte sich neben ihre Füße. „Genug. Aber nicht viel.“ sagte sie kurz und schwieg wieder eine Weile.
    Dann nahm sie das Ästchen aus dem Mund, atmete tief durch und spuckte ein paar Späne neben sich.
    „Der Traum ist wiedergekommen. Das ist Jahre her seit dem letzten Mal. Hab mich wohl zu früh gefreut.“ Sie zuckte mit den Schultern und drehte das Hölzchen in den Fingern. Die Innenseiten dieser Finger waren mit Hornhaut bedeckt, die sich in den Gelenkkehlen und an den Fingerkuppen von Zeige-, Mittel- und Ringfinger in kleinen Fetzen gelöst hatte und vernarbt war.
    Das kam vom Bogenschießen, denn Enyn trug nur fingerlose Lederhandschuhe. Die innere Handkante und der Daumenknöchel ihrer Linken, die den Bogen hielt, waren ebenso verhärmt. Hier striff der Pfeil über die Haut, denn ihr Bogen hatte keine Pfeilauflage. Der Handschuh war an diesen Stellen längst dünn und bot keinen großen Schutz mehr gegen die scharfen Kanten der Federkiele.
    Die Elben bauten keine Bögen mit Pfeilauflage. Die mußten den Pfeil spüren, um ihn zu lenken. Und Enyn trug einen elbischen Bogen.
    Jano trat aus den Scheune und streckte sich ausgiebig, gähnte und schüttelte sich.
    „Oh. Regen im Anmarsch,“ sagte er und betrachtete das Morgenrot, das langsam zu einem schmutzigen Orange verblaßte. Der Himmel begann bereits sich zuzuziehen. Enyn und Ben schauten zu ihm hin und mußten lächeln. Jano wand sich ihnen zu. „Frühstück?“ fragte er fröhlich.
    „Es wird einen Sturm geben.“ sagte Elamar’s Stimme auf einmal dicht hinter ihnen. „Ich denke, es wird euch lieber sein, wenn wir das Unwetter abwarten.“ Er sah Ben und Jano einen Moment an, dann warf er einen flüchtigen Blick auf die junge Bogenschützin und zog sich wieder in die Scheune zurück. Enyn erstarrte, als sie den nächtlichen Angreifer erkannte. Sie hatte mit allem gerechnet nur nicht damit.
    Kaum hatten sie gegessen und gepackt, fielen die ersten eisigen Tropfen vom Himmel. „Nur ein Schauer vielleicht.“ sagte Jano ohne jeden Ernst und als Antwort spielte eine bedrohliche Windboe in den Eschen. Jano verzog das Gesicht und wickelte seinen grünen Schal dichter um den langen Hals. Ben knirschte mit den Zähnen und hinten, an die Wand gelehnt, kaute Enyn versunken auf ihrem Süßholzzweig und beobachtete den Elben.


    Der Bogenschütze mit dem zerkratzten Gesicht läuft durch den Schnee. Die obere Schicht ist gefroren, die Schritte knirschen wie durch Kristall brechend. Der Himmel ist blau im hellen Sonnenschein, wie der kalte Stahl in der Hand des Reiters, der den Schützen verfolgt.
    Die Luft schneidet wie Eis, weiße Wolken strömen aus dem Mund des Schützen, den Nüstern des Pferdes. Der Schütze rennt, den Bogen auf dem Rücken verstaut, Wangen und Hände gerötet, der Atem zu schnell.
    Der Reiter kommt näher, die Gestalt verhüllt, das Gesicht vermummt, die Augen brennen dunkel aus dem Schatten.
    Der Wald liegt schon lange zurück. Als der Schütze auf die Ebene hinaustrat, war er ausgeliefert.
    Es war nur noch die Ebene- aber dann der Reiter- und der Schütze lief.
    Keine Zeit den Bogen zu spannen, keine Zeit stehen zu bleiben und zu kämpfen, keine Zeit. Und keine Chance.
    Der Schütze stürzt.
    Hier wachte Enyn auf. Aber war es sonst nur eine seltsam vertraute Gestalt eines Bogenschützen- diesmal war sie sich sicher, daß dieser Schütze sie selbst war.
    Erneut setzten sich die langen Ketten aus Gedanken in Bewegung die unermüdlich nach einer Bedeutung in diesem Traum suchten wie es schon früher gewesen war. Aber da war nichts. Verfolgte sie die Szene sonst als ein ferner Zuschauer in der Totalen, unterbrochen von wütenden Bildern des gehetzten Pferdes, so war sie diesmal sie selbst, die rannte. Dann sah sie sich laufen, ihr zerkratztes Gesicht, halb panisch, halb aufgebend. Dann der Sturz- scharf die Schneekruste durch die ihre Hände schürfen, ihr erstickender Aufschrei. Und dann der Reiter und dann das Aufwachen.
    „Und die Farben so intensiv.“ flüsterte sie zu Ben, der neben ihr aufwachte, „ dieses Blau so strahlend, die Schwärze des Reiters so tief, der Schnee-„ sie schüttelte entsetzt den Kopf und schluckte schwer, „bösartig.“ brachte sie hervor und richtete sich auf, strich sich schnell das Haar aus dem Gesicht, rieb sich die Augen und atmete durch. Sie versuchte sich zu fassen und grinste Ben an. „Ich glaube, eure Gesellschaft tut mir nicht gut.“
    Den kurzen Blick, mit dem sie dabei Elamar‘s Lager streifte, bekam er allerdings auch mit. Sie hatte ihn nie durch ihren alles überspielenden und alles ironisierenden Zynismus täuschen können.
    Ein bißchen war sie wie Jano. Und doch ganz anders. Schaute man genauer hin, sah man, das Enyn’s Witze und Ausgelassenheit stets getrübt war. Nicht wie Jano, der es bestens verstand, in allem und jedem einen Grund zum Lachen zu finden. Und war das nicht möglich, war er zumindest ein Meister der Ablenkung. Man konnte gelegentlich den Eindruck gewinnen, daß er einfach gar nichts ernst nahm. Er lief dadurch natürlich auch leicht Gefahr, in Fettnäpfe zu treten oder taktlos zu erscheinen. Hätte er nicht „etwas Anständiges“ gelernt, wäre er ein hervorragender Gaukler geworden. Er hatte ohne Zweifel Spielmannsblut in den Adern. Und die Tatsache, daß er nie etwas über seinen Vater erfahren hatte, bestärkte Ben damals noch in dieser Vermutung. Den blonden Schopf hatte er jedenfalls nicht von seiner Mutter.
    Aber ebenso wie bei Enyn war das alles nur eine Maske. Jano versuchte allerdings eher sich selbst zu täuschen und damit abzulenken. Enyn wollte die Anderen täuschen und von sich ablenken. Vielleicht funktionierte Jano’s Maske auch deshalb besser.


    Am nächsten Tag schien die Sonne wieder und ausgeruht wie sie waren, legten sie ein gutes Stück zurück. Enyn beschloß, sie eine Weile zu begleiten. Ben war nicht überrascht und freute sich über ein wenig Unterhaltung mit der alten Freundin auf dem Weg. Er versicherte Elamar, daß er ihr traue und es außerdem nicht schaden könne, eine weitere bewaffnete Person bei sich zu haben, denn er hatte den sorgenvollen Blick des Elben wohl bemerkt. Es sei nur eine Weile, sagte Enyn, sie träfe mit ein paar Bekannten drei Orte weiter zusammen. Elamar sah sie lange an und nickte schließlich. Enyn hielt seinem Blick stand, aber Ben konnte kein genaues Gefühl aus dem Ausdruck in ihren ernsten Augen lesen – nur eins: es schien ein Tumult darin zu herrschen.
    In einem kleinen Dorf frischten sie auf einem Markt ihre Vorräte auf. Es herrschte ein gewaltiger Menschenauflauf auf dem winzigen Platz, als seien sämtliche Bauern der Dörfer zusammengekommen, die zwei Tagesreisen im Umkreis lebten. Niemand achtete auf sie, als sie sich mühevoll durch die Menge schoben. Elamar sah sich aufmerksam um. Er schien keine Probleme mit dem Vorwärtskommen zu haben und pflügte durch die Menge, als habe er einen Bannkreis um sich gezogen. Ein paar der Bauern warfen ihm mißtrauische Blicke zu, und als Ben nah genug an ihn heran kommen konnte, zischte er ein „Mach dich kleiner!“ in seine Richtung. Der Elb drehte sich gereizt zu ihm um und warf ihm einen kurzen Blick voll angekratztem Stolz von unter seiner Kapuze aus entgegen. Dann aber krümmte er gehorsam den Rücken und versuchte ein Humpeln nachzuahmen, so wie er es schon in der großen Stadt getan hatte und schon da hatte, es ihm den Hals gerettet.
    Schließlich brach wieder eine eisige Nacht herein. In der einzigen Schenke am Ort war die Hölle los. Viele Bauern hatten ein gutes Geschäft gemacht und feierten den Erfolg vom Tage, andere hatten dagegen genug Frust angehäuft, den es zu ertränken galt. Eine Gauklertruppe, die am Tage schon auf dem Markt kräftig abgestaubt hatte, war auch hier wieder anwesend und ließ es sich gut gehen. Ein enorm angetrunkener Tavernenbarde erzählte mit aufgerissenen Augen und ausschweifender Gestik von einem heldenhaften Schlächter, der unheimlich gutaussehend und ein wahrer Riese an Gestalt sei und dessen Roß in Wirklichkeit eines der letzten schwarzen Einhörner war, das er persönlich aus den erbarmungslosen Fängen der grausamen Eiselben vom Nordmeer befreit hatte und dessen Haus ein Dach aus Drachenhaut besaß. Natürlich von einem der letzten Drachen.
    Ben trat zu Enyn, die alleine an einem kleinen Tisch weiter saß, weil sie am Tisch der Reisekameraden keinen Platz mehr gehabt hatte. Er setzte sich und sah, daß sie Elamar betrachtet hatte. Tiefe Schatten lagen unter ihren Augen und viele kleine sorgenvolle Linien ließen sie auf einmal viel älter erscheinen als sie eigentlich war. Er wußte, woran sie dachte, wenn sie diese Linien in ihrem jungen Gesicht hatte. Sie trank und löste sich schließlich aus ihren Gedanken, als sie Ben bemerkte.
    „Denkst du oft daran?“ fragte der plötzlich leise.
    Enyn sah auf. „Ob ich daran denke?“ Sie lachte bitter auf, aber Ben entging nicht wie schwer das Lachen aus ihrer plötzlich zugeschnürten Kehle drang.
    „Nein.“ sagte sie dann und sah ihm in die Augen, „Aber sobald ich die Augen schließe, mein Freund, stehe ich wieder mitten drin, als fiele ich durch ein Traumtor, höre ich den Lärm, das Zischen der Pfeile, jemand ruft meinen Namen- ...manchmal selbst, wenn ich zu betrunken bin, um noch einen Schritt geradeaus zu tun -“ sie schwieg und schüttelte den Kopf, trank, wieder das Lachen, sah zur Seite.
    „Tut mir leid.“ sagte Ben.
    „Ich habe seit Jahren diesen Bogen nicht mehr aufgespannt.“ sagte Enyn plötzlich nachdenklich, als hätte sie ihn nicht gehört. „Und wenn ich es tat, zitterte er in meiner Hand, als wolle er mich erinnern. Oder warnen. Ich habe Angst, es wieder zu versuchen. Ich habe eine unglaubliche Angst, Ben. Ich bin kein Schütze mehr. Ich bin nur noch ein versoffenes Wrack, ein dreckiger Söldner, der sein Handwerk nicht mehr ausüben kann- “ Sie brach ab, sah ihn kurz an und griff nach ihrem Becher, um den Inhalt hinunter zu stürzen. Dann sah sie ihn wieder an und lächelte ihr selbstverspottendes Lächeln, das Ben zögernd erwiderte.
    Der Barde hatte seine Geschichte gerade mit dem Untergang seines Helden beendet, der sich in seinem Übermut auf eine reichlich dumme Mutprobe eingelassen und dabei wahnsinnig geworden war, und offene Münder, ungläubiges Gelächter und noch mehr Alkohol geerntet. Er hatte genau die Zeit dafür gebraucht, die die anwesenden Musiker nötig gehabt hatten, um zwei bis drei Krüge Bier zu verzehren, und nun erhob sich mit einem Seufzen und einem letzten Zug aus dem Becher einer der Spielleute. Er trug einen großen roten Hut aus Leder, an dem eine lächerlich lange goldene Feder und bunte, teilweise recht ausgefranste Bänder hingen. Sein Spitzbart war dunkel, ebenso sein schmaler Zopf, der unter dem Hut herausragte und die Augenbrauen, die zu allem Überfluß auch noch zusammengewachsen waren, verliefen in einem beeindruckendem Schwung über den dunklen Knopfaugen.
    Er stellte sein Bein auf einen Stuhl, hob seine Laute auf sein Knie und begann zu spielen. Sogleich erhob sich ein zweiter aus der Gruppe, der noch keine 14 Jahre alt sein durfte und eine kleine silberne Flöte aus einer schmalen Tasche an seiner Weste zog. An dieser Weste befanden sich eine ganze Reihe solcher Taschen, die alleine für Flöten gemacht schienen.
    Sie begannen ein frohes Sauflied und das dürre Mädchen, das bei ihnen war, stimmte bald mit einer süßen, kräftigen Stimme ein. Sie schlug einen Schellenkranz, während der vierte im Bunde, ein mürrischer Glatzkopf, mit den Händen eine Trommel bearbeitete, die er zwischen die Knie geklemmt hatte.
    Die Reisenden fühlten sich nun etwas wohler unter dem Volk, das derart neu beschäftigt wurde und warfen sich ein paar Blicke zu. Im stillen Einvernehmen blieb man in Ruhe sitzen und war dankbar für die Pause. Jano freute sich besonders und wippte mit dem Fuß. Er mochte es immer gerne, den Barden zuzuhören und hatte oft genug selbst bei Gelegenheit einen passablen Sänger abgegeben. Ben kam zurück an den Tisch und entspannte sich etwas. Er hob ruhig den Krug an den Mund, während Elamar nur die Brauen hob und ihn ansah. Ben zuckte entschuldigend mit den Schultern und lächelte müde, dann senke der die Augen wieder.
    Sonja ließ sich von Jano mitreißen und schaute sich neugierig das Treiben an. Sie saß neben ihm am Tisch und war augenblicklich angetan von der ausgelassenen Stimmung und der Musik, den bunten Gestalten der Spielleute und deren Scherzen. Als „anständiges Mädchen“ hatten ihre Eltern es immer bestens verstanden, sie von solchen Orten fernzuhalten.
    Ein fähiger und geschätzter Spielmann konnte wirklich ein gutes Leben haben, schoß es ihr durch den Kopf. Man gab ihnen mehr Bier aus, als sie trinken konnten und ihr gesellschaftlicher Status stieg bei solchen Gesellschaften höher als der eines Adligen auf der Straße am Markttag. Keiner wagte es wirklich sich an einem Barden zu vergreifen, zu viele Legenden, Gerüchte und Flüche scharten sich um dieses heimatlose Volk. Sie wurden gut bezahlt, wenn sie zu begeistern wußten und ein betrunkenes Publikum zahlte noch einmal so gut. Und sie waren niemanden verpflichtet. Niemandem.
    Der stille Glatzkopf mit dem bleichen Gesicht erhob sich jetzt mit seiner Trommel und setzte sich mit seinem Instrument auf dem Tisch. Dazu spielte der junge Rotschopf auf einer eigenartigen Flöte, die er aus drei Teilen zusammen schraubte. Sie gab einen gedämpften, rauchigen Klang, konnte aber eine erstaunliche Anzahl von Tönen produzieren und das über mehrere Oktaven.
    Das Mädchen tanzte. Erst ließ sie nur ihren langen Mantel fallen und entblößte ihre bronzenen Schultern dabei so lasziv, das Zurufe und Geld ihr Lohn waren. Mit geschmeidigen Bewegungen warf sie ihre zerfransten braunen Locken zurück und spielte mit ihrem Schultertuch. Schließlich ließ sie auch das fallen und gab ihren kleinen, weichen Bauch zur Schau. Dabei tanzte sie fortwährend um die Tische und Besucher und fing alle Blicke im Nu. Sie war recht hübsch und sehr jung wohl auch, dabei vielleicht etwas zu mager, um den Wünschen der meisten Kerle zu genügen. Ihre spärliche Brust hatte sie mit ihrem kurzen Leibchen aufgeschnürt und die Röcke hingen ihr knapp auf den Hüften. Allerdings verstand sie sich gut genug auf ihre Bewegungen und auf Blicke, um damit jeden Zweifler von den Unzulänglichkeiten ihrer Figur abzulenken.
    Auch Jano und Sonja sahen begeistert zu. Jano schmachtete die junge Tänzerin theaterhaft an, als sie ihn im vorbeigehen an seinem geliebten Schal packte und auf die Beine zog, um ihn dann mit einer gebieterischen Geste und einem eben solchen Lächeln wieder auf seinen Platz fallen zu lassen.
    Ben lehnte an der Wand und trank, als die Kleine an ihren Tisch vorbei flanierte und ihm wilde Blicke zuwarf. Er lächelte ihr müde zu. Sonja sah zu Elamar hinüber. Hinter dessen Rücken war die Tänzerin jetzt zu einem aufreizenden Rhythmus angelangt. Um nicht aufzufallen wand Elamar sich um und vermied es noch so gerade die Augen zu verdrehen, als die Kleine sich vor ihm räkelte und die schmalen Hüften schwang. Er hob eine Braue und blickte unter seiner Kapuze hervor in ihre Augen, da tänzelte sie schließlich zum nächsten Tisch und unterhielt dort weiter die Leute, die grölten und klatschten und ihr Geld zusteckten.
    Elamar drehte sich wieder an den Tisch und schüttelte verständnislos den Kopf. In seinem Gesicht spiegelte sich eine leicht angewiderte Arroganz, als er Ben’s und das Grinsen der Anderen sah. Er lächelte nachsichtig und entschärfte damit seinen Gesichtsausdruck gerade weit genug um weder beleidigt noch erheitert zu wirken. Es war einer jener Gesichtsausdrücke, die alle Gedanken eines Elben gegenüber eines Sterblichen auf den Punkt bringen konnten: Ich verstehe euch nicht- aber ihr habt mein Mitleid.



    2
    Sie blieben nicht in dem Gasthaus. Als sie sich aufgewärmt hatten, verließen sie das Treiben und wanderten noch einige Stunden weiter, bis sie an den Waldrand kamen. Hier schlugen sie, geschützt hinter ein paar Felsen und dicken Bäumen, ihr Nachtlager auf und entzündeten ein kleines Feuer, um sich zu wärmen. Ben schlug vor Wachen aufzustellen, auch wenn sich keiner seine Unruhe so richtig erklären konnte.
    „Ist es wegen der Reiter?“ fragte Enyn und ließ sich als erste am Feuer nieder, um zu wachen. Alle erinnerten sich plötzlich an die düstere Gruppe, die kurze Zeit, bevor sie gegangen waren, die Taverne betreten hatte. Vier oder fünf Männer in dunkelgrauen Reiterkleidern und Mänteln, bewaffnet mit Schwertern und Dolchen. Sie trugen ein Stück dunkles Tuch um ihre Köpfe gewunden, mit dem sie auch Nase und Mund verhangen hatten, als sie eintraten. Vier oder fünf Männer mit kaltem Gesicht.
    Ben sah Enyn an und bemerkte dann die Blicke der anderen auf sich. Er nickte. „Das waren Leute aus der Stadt.“
    „Aber keine gewöhnlichen Soldaten.“ stellte Enyn fest und Ben schüttelte den Kopf.
    „Ich kenne sie.“ sagte Elamar und sein Blick ging in die Ferne als denke er an etwas, das lange zurück lag. Ein großer Schmerz huschte über sein Gesicht, dann sah er Ben an. „Ich kenne sie.“ wiederholte er. Sein Blick wurde intensiv mit einer unterschwelligen Angst, die Ben an dem sonst so kontrollierten und ruhigen Wesen des Elben ohne gleiches erschreckte.
    „Sie suchen danach.“ sagte er und wußte, daß er recht hatte. Elamar nickte. Jano unterbrach das Kramen in seinem Gepäck und richtete sich auf, Sonja sah von einem zum anderen.
    „Wonach?“ fragte Enyn langsam, beunruhigt von der plötzlichen Anspannung in der Gruppe, von der sie ausgeschlossen war. Ben sah zu dem Elbenherrn hinüber. Dessen Blick ruhte lange auf der Bogenschützin, lange und unbestimmt, bevor er eine kleine Schachtel unter seinem Gewand hervorholte, in eine fleckiges Stück Öltuch gewickelt.


    „Warum meidet ihr mich?“
    Enyn erschrak und sah auf. Sie hatte einen Becher mit Met aufgewärmt und klammerte sich daran fest. Elamar hatte sich unbemerkt gegenüber an das Feuer gesetzt und sie durch die spärlichen Flammen hindurch eine Weile angesehen. „Und warum reist ihr trotzdem mit uns?“
    Enyn schwieg etwas unschlüssig. Sie konnte nicht leugnen, daß sie die Gesellschaft des Elben mied, um Gedanken niederzukämpfen und trotzdem nicht von der Gruppe hatte einfach so scheiden können. Warum hatte sie aber nicht sagen können, und daß sie der Traum vom Schnee wieder aufgesucht hatte, beunruhigte sie noch zusätzlich. Manchmal hatte sie tatsächlich das brennende Verlangen, sich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen. Aber jetzt konnte sie wirklich nicht mehr fort.
    Elamar schob sich die Kapuze seines grauen Mantels vom Kopf, die er fast ständig trug, um sich zu verbergen.
    „Ihr tragt einen elbischen Bogen.“ sagte er nach einigen Augenblicken. „Woher?“
    Enyn sah die Waffe neben sich lange an und mußte plötzlich mit Tränen kämpfen. Die Gegenwart des Elben ließ sie alle Masken vergessen. „Er war ein Geschenk von einem Freund,“ antwortete sie leise, „aber ich benutze ihn nicht mehr...“
    „Habt ihr ein Verbrechen begangen?“
    Enyn zuckte von der plötzlichen Direktheit der Frage heftig zusammen. Sie schluckte schwer und zögerte, begegnete dann seinem Blick und nickte langsam. Alle Tränen waren aus ihren Augen gewichen.
    „Welches?“ fragte der Elb weiter. Enyn sah zur Seite, dann trank sie und atmete lange durch. Erst wirkte es, als würde sie gar nicht antworten.
    „Welches ist das schlimmste Verbrechen in euren Augen?“ fragte sie leise und ohne von ihrem Becher aufzusehen.

  • Elamar’s Kiefermuskeln spannten sich, als er die Zähne zusammenbiß und Enyn fixierte.
    „Verrat.“ stieß er aus und sah sie scharf an. Enyn sah nur kurz in seine Augen, aus denen eine geladene Mischung aus Erkenntnis und seinen eigenen Erinnerungen sprühte. Aber auch etwas anderes. Mitleid? Trauer? Zweifel?
    Enyn leerte ihren Becher mit zitternder Hand, dann erhob sie sich mit gesenktem Kopf und ließ den Elben allein am Feuer zurück. Elamar sprang in einer plötzlichen Rage auf und fand sich in einem Zwiespalt wieder, ihr zu folgen oder nicht. Dann aber setzte er sich wieder. Sie würde nicht weit gehen.


    Sie wartete darauf, daß die Tränen zurückkämen, daß sie weinen und dann wieder kalt und resigniert an das Feuer zurück gehen könnte. Aber die Tränen kamen nicht. Sie lief durch die Bäume ein gutes Stück in den Wald hinein, einen kurzen Hang hinab bis an einen kleinen Bach, der sich mit eiskaltem Plätschern zwischen Eiszapfen und erstarrten Grasbüscheln durch sein Bett bewegte. Sie sank auf den kalten Grund und starrte ins Wasser. „Warum passiert das alles? Warum bringe ich jedem nur Unglück und schlechte Erinnerungen? Welcher Fluch liegt auf mir?“ Wieder dachte sie daran, einfach fortzulaufen. Nun mehr denn je. Aber konnte sie das? Nachdem sie erfahren hatte, was das Ziel ihrer Reise war, würde Elamar glauben, sie beginge einen weiteren Verrat. Aber spielte das noch eine Rolle? Ja verdammt, das tut es!
    Denn er wußte nicht, warum sie dieses Verbrechen damals begangen hatte. Er wußte nicht, daß es nie ihre Absicht gewesen war und daß man sie hintergangen und benutzt hatte. Und Enyn selbst gestand sich das nicht ein. Hätte sie auf ihren Freund gehört und wäre nicht wieder zurück gekommen, um sein Volk zu warnen, hätten dann nicht die Menschen noch viel länger gebraucht, um die Siedlung zu finden? Und hätten die Elben nicht noch viel mehr Zeit gehabt zu fliehen? War es etwa nicht ihre Schuld gewesen?


    „BEN!“ Der Ruf des Elben drang mit ungewohnter Schärfe durch den Wald und brachte Enyn in die Realität zurück. Dann hörte sie das Klirren von Metall, von Schwertern und Sonja’s spitzen Schrei.
    Enyn war in einer Sekunde auf den Beinen und rannte zurück Richtung Lager. Als sie jedoch ankam, warf sie sich erschrocken ins Unterholz. Auf der Lichtung standen 10 oder mehr der seltsamen vermummten Reiter, die sie am Abend hatten in die Taverne kommen sehen. Die Freunde lagen am Boden, Elamar allein stand still neben dem Feuer, dessen leises Knacken und das Schnaufen der Pferde, die jetzt in das Lager geführt wurden, die einzigen Geräusche machten. Die Reiter sprachen kein Wort. Einer von ihnen band dem Elben brutal die Hände auf den Rücken und zwang ihn damit in die Knie, während zwei weitere ihm die Spitzen ihrer Schwerter an den Hals hielten. Zwei Reiter lagen tot am Boden. Enyn beobachtete, wie sie Elamar, und Ben und Sonja, die offensichtlich bewußtlos waren, auf Pferde verfrachteten, als seien die Körper leicht wie Federn. Enyn erstarrte.
    Jano lag abseits auf seinem Lager. Einer der Soldaten stieß ihn mit dem Fuß an, aber der junge Mann reagierte nicht. Der Reiter drehte sich zum Gehen. Die Männer saßen auf und verließen die Lichtung in Richtung des Dorfes. Ihre eigenen Toten blieben zurück.
    Kaum war sie sich sicher, daß sie fort waren, stürzte Enyn aus ihrem Versteck und ließ sich neben Jano nieder. „Jano?“ fragte sie leise mit zitternder Stimme und drehte den Kameraden um. Seine Kehle war durchschnitten und er atmete nicht mehr, seine Augen starrten kummervoll in die Nacht. Eine dunkle Lache aus seinem Blut hatte sich über seinen Schlafplatz ausgebreitet und klebte in seinem blonden Haar. Sein grüner Schal war schwarz davon.
    Enyn schloß eine Sekunde die Augen und wandte sich ab, spürte endlich die Tränen heiß durch ihre Augenlider dringen und versuchte mit aller Macht sie niederzukämpfen. Sie schniefte und wischte sich wütend durchs Gesicht, schluckte alles hinunter und warf wieder einen Blick auf den jungen Freund, dessen sorgloses Gelächter ihr noch im Ohr hallte aus Zeiten, die schon viel zu lange her waren. Und jetzt sah sie auch worauf sein Körper gelegen hatte.
    Vorsichtig streckte sie die Hand nach der flachen Holzschachtel aus.


    3
    Daß sie verfolgt wurde, bemerkte sie erst als es fast zu spät war. Am Morgen der dritten Nacht, die sie ohne Pause durch die Kälte Richtung Norden gewandert war, hörte sie die Reiter. Sie war nahe dem Waldrand, ab von der Straße, gelaufen und der aufgefrischte Wind trug die Geräusche der Pferde in einer Böe zu ihr, als wolle er sie warnen. Und nicht nur das. Da waren auch noch Hunde.
    Ihre Hand griff unwillkürlich nach der Schachtel, die leicht und seltsam warm unterhalb ihrer Brust in ihrem Hemd steckte und die sie mit Jano’s grünen Schal, grob im eisigen Wasser des kleinen Baches ausgewaschen, an ihren Leib gebunden hatte, damit sie sie unter keinen Umständen verlieren konnte. Sie lauschte noch einen Moment und spürte ihren Herzschlag sich angstvoll beschleunigen.
    Sie wußten, daß Enyn das Banner hatte. Und sie suchten sie. Vielleicht waren sie in das Lager zurückgekehrt, um gründlicher nach zu sehen und hatten das Grab am Bach bemerkt, in dem Enyn Jano, und einen ihrer Pfeile, begraben hatte.
    Sie begann entschlossen weiter von der Straße fort in die Wälder zu laufen, um die Verfolgung für die Männer auf ihren Pferden schwieriger zu machen.
    Es begann es zu schneien.


    Das Gelände stieg stetig an. Manchmal wurde der Hang schon so steil, daß sie Mühe hatte, ohne Hilfe der Hände weiterzukommen. Sie wußte nicht einmal genau, ob sie noch in die richtige Richtung lief, und fragte sich, ob sie je ein sicheres Versteck finden konnte. Der Schnee erleichterte die Spurensuche für die Reiter, auch wenn es das Fährtensuchen für die Hunde schwieriger machte. Enyn konnte das Bellen aus mindestens zwei Kehlen inzwischen schon oft durch die Bäume bis zu ihr hallen hören. Es würde nicht mehr lange dauern. Machten die Biester denn nie eine Pause?
    Enyn spürte jetzt die Erschöpfung. Trotz der Kälte schwitzte sie unter ihrer wollenden Tunika und mit pfeifendem Atem tat sie weiter einen Schritt vor den anderen, fieberhaft über eine Fluchtmöglichkeit nachdenkend.
    Der Wald wurde wieder dichter und schließlich lag ein Dickicht aus Nadelbäumen und Weißdorn vor ihr, das schier undurchdringlich aussah. Es war nicht zu umgehen, erstreckte sich in beide Richtungen wie eine Mauer und immer noch stieg das Land erbarmungslos weiter an. Sie sah sich um und atmete die Sterne vor ihren Augen fort. Dann band sie sich die Schachtel mit dem Banner unter ihrem Hemd auf den Rücken und nahm den Bogen ab.
    Sie sah zum Himmel auf. Trübes weiß schimmerte zwischen den dichten Spitzen der Tannen hindurch und einzelne Flocken rieselten auf sie nieder, sie hörte den Wind durch die Bäume treiben. Und sie spürte die Kälte und die Verzweiflung in ihr aufsteigen wie eine Welle, wie eiskaltes Wasser.
    Als sie sich noch einmal umdrehte, glaubte sie in der Ferne eine Bewegung auszumachen. Sie lies sich mit einem Atemzug auf Knie und Unterarme sinken und kroch in das Gestrüpp, den Bogen in einer Hand voranschiebend. Bald schon wurden die Durchgänge zwischen den Stämmen der Sträucher noch niedriger und Enyn mußte nunmehr mühsam vorwärts robben, während sich Äste in ihren Haaren verfingen und ihr das Gesicht mit neuen Kratzern versorgten. Sie fühlte sich, als sei sie in einem Fuchsbau gefangen.
    Hinter sich hörte sie nun immer deutlicher das Bellen der Hunde, das von Sekunde zu Sekunde aufgeregter wurde. Nun fühlte sie sich wie der Fuchs und spürte, wie ihr den Angstschweiß ausbrach. Sie blickte hinter sich, konnte aber außer dem schwarzen Gewirr aus Ästen nichts sehen und vor ihr lag das gleiche Szenario. Enyn biß die Zähne zusammen und krauchte mit Entschlossenheit weiter.
    Sie wußte nicht, wie lange sie unter den Büschen war, aber es kam ihr vor als seien es Stunden. Kurz glaubte sie, sie habe sich verirrt und eine Panikwelle übermannte sie mit heftiger Platzangst, bis sie schließlich erschöpft den Kopf auf den schwarzen Boden sinken lies und die Augen schloß. Ein Zustand zwischen traumlosem Schlaf und Bewußtlosigkeit hüllte sie ein. Das Erwachen auf dem eisigen Boden war wie ein Schlag ins Gesicht.
    Und dann schimmerte ihr Licht entgegen.


    Sie konnte sich noch so eben wieder mit einem gehaltvollem Fluch auf den Lippen in die Höhlen der Sträucher zurückziehen, als sie den Reiter sah, der einige Schritte vor dem Rand der Hecke langsam vorbeiritt, als warte er auf etwas. Er wartete auf sie.
    Das Gelände wurde hier wieder flacher, die Bäume standen lichter. Mehr Schnee lag auf dem Waldboden. Wie in aller Welt hatten sie an der Weißdornmauer vorbeikommen können? Sicher, sie hatten Pferde. Aber selbst damit hätten sie in dem unwegigen Gelände einen halben Tag gebraucht. Wie lange hatte sie da gelegen? Es war heller Tag da draußen. Wo war der andere? Und wo waren die Hunde?
    Wie zur Antwort tauchte wie aus dem Nichts dicht vor dem Eingang zu ihrem Versteck ein schlanker, dunkelgefleckter Jagdhund auf, der mit ohrenbetäubendem Gekläff seinem Herrn berichtete, was er gefunden hatte. Enyn erschrak zu Tode und kroch weiter in den Gang zurück. Der Hund bellte und fletschte die Zähne, dann ließ er sich auf den Bauch fallen und kroch der Schützin mit einem gierigen und an Verzweiflung grenzenden Knurren nach.
    Enyn kam nicht weiter. Hinter ihr war kein Gang mehr, sie mußte in der Hast ihren alten Weg verfehlt haben. Schwer atmend sah sie den sabbernden Köter auf sich zukriechen und stieß mit dem spitzen Nockende ihres Bogens nach seinen Augen. Mit einem Aufheulen wich das Tier zurück, aber er fing sich in seiner Raserei schon bald und kam mit einem wütenden Satz zu nah an sie heran, als das sie noch einmal hätte zustechen können. Sie ließ den Bogen kurz entschlossen los und tastete nach dem langen Dolch an ihrem Gürtel. Der Hund war nun so nah, daß sie seinen heißen Atem auf ihrem Gesicht spürte. Ein saurer Gestank, der ihr schon mit dem schieren Unwillen Luft einzusaugen den Atem lähmte strömte ihr aus dem Maul des Tieres entgegen. Sie hielt den linken Arm über ihren Kopf und krümmte sich weiter in den Gang um Entfernung zu gewinnen. Dabei konnte sie endlich den Griff des Dolches umfassen und löste mit einer Bewegung des kleinen Fingers den Riemen, der die Klinge an seinem Platz hielt. Die Zähne der Kreatur hatten ihren Ärmel gepackt und zerrissen und die Haut ihres Armes darunter schmerzhaft geritzt, da hielt sie die Luft an und drehte sich mit einem Ruck gerade so weit auf die Seite, daß sie in einer Bewegung ihren Dolch mit der Klinge voran hervorziehen und in den Hals des Tieres rammen konnte.
    Der Hund jaulte laut auf und ließ von ihrem Arm ab. Sie zog die Waffe mit letzter Kraft aus seinem Hals und roch das frische Blut, das aus der Wunde quoll. Der Hund wand sich im Todeskampf und jaulte und wimmerte und krabbelte dabei rückwärts um von der jungen Frau fort zu kommen. Aber schon wenig später erstarben seine Bemühungen und dann auch das Wimmern. Enyn atmete zitternd vor Erschöpfung aus und empfand für einen Moment nichts als Mitleid mit dem Tier. Verzeihe mir. flüsterte sie in der Elbensprache und wußte gleich darauf nicht mehr, was sie gesagt hatte.
    Draußen regte sich der Reiter. Sie hörte das Schnauben seines Pferdes, als er näher an den Heckenrand heran kam. Der Hund war gerade soweit rückwärts gekommen, das er den Ausgang verstopfte und Enyn die Möglichkeit gab abzubiegen und in einen anderen Gang zu gelangen. Sie wechselte den Dolch in ihre Rechte und nahm den Bogen wieder auf. Die Wunden an ihrem Arm brannten als sie alle Muskeln in ihrem Körper anspannte, der vom ziellosen Wandern zwar ausdauernd aber vom Saufen geschwächt und vergiftet war, um so lautlos wie möglich in eine andere Richtung zu kriechen. Sie wunderte sich nur einen Moment zu welchen klaren und schnellen Gedanken sie fähig war. Der Reiter mußte verschwinden. Und genau das hatte sie nun vor.


    Tatsächlich achtete der Reiter für einige Momente nicht auf sie und stieg statt dessen von seinem Pferd ab. Er lief zu dem toten Hund, zog ihn mit Leichtigkeit am Schwanz aus dem Gang unter der Hecke und begutachtete die tödliche Wunde. Seine Augen, das einzig sichtbare in seinem verhülltem Gesicht, nahmen einen Augenblick einen bekümmerten Ausdruck an und lenkten ihn von den Schritten hinter im ab. Als er das Geräusch wahrnahm und sich wieder aufrichten wollte, war es bereits zu spät. Das Letzte was er sah war eine junge Frau mit zerzaustem Haar und zerkratztem Gesicht, das Blut seines Hundes auf den Kleidern und Wangen und den großen Stein, den sie mit zitternder Hand hochhielt und mit einem wütendem Schrei auf seine Stirn niedergehen lies.


    Enyn schlug zu, noch mehrere Male wie im Rausch und richtete sich dann taumelnd auf. Sie ließ den Stein los, der mit einem stumpfen Aufprall landete und in das Dornengebüsch rollte. Sie sah zu dem Pferd auf, das nun zu seinem toten Herrn trabte und ihn mit dem Kopf anstieß. Sie griff sich an die Stirn und rang nach Atem, um den Schwindel zu vertreiben. Aber ein anderer Laut riß sie sofort zurück in die Welt: ein anderes Pferd.
    Das Tier des Toten spitzte die Ohren. Enyn drehte sich gehetzt um und griff nach ihrem Bogen, den sie am Rande der Hecke zurückgelassen hatte. Schon tauchte der andere Reiter zwischen den Bäumen auf. Sie sah zurück zu dem herrenlosen Roß und tat entschieden einige Schritte auf das Tier zu. Als ob es ihre Gedanken gelesen hatte, wich das Pferd zurück und wieherte abweisend, als sie näher kam und die Zügel greifen wollte schließlich, bäumte es sich auf, so daß sie zurückweichen mußte, drehte sich um und lief davon.
    Enyn sah panisch zu dem anderen Reiter zurück, der so schnell er konnte sein Pferd auf sie zutrieb. Von dem zweiten Hund war nichts zu sehen. Sie widerstand dem Impuls wieder unter das Gestrüpp zu kriechen, das wäre jetzt nur noch eine Falle. Also warf sie ihren Bogen auf den Rücken und rannte los. Als sie sich noch einmal umsah, stellte sie fest, daß sie zu Fuß schneller war als der Berittene. Beherzt setzte sie zwischen die Bäume davon, auf das helle Tageslicht zu.


    Da war die Ebene. Enyn erstarrte, als sie das blendend weiße Feld erkannte und Szenen ihres Traumes, der sie schon so lange quälte, schossen ihr durch den Kopf. Sie sah sich um- von dem Reiter war nichts mehr zu sehen oder zu hören. Aber sie wußte- er war da.
    Die Ebene zog eine breite Schneise durch den Wald wie eine Narbe, endlos nach beiden Seiten. und ebenso unumgänglich wie der Weißdornwall. Sie war schneller, wenn sie den Bogen nicht in der Hand halten mußte und fast wäre sie schon losgelaufen; aber dann, als sie am Rande der kahlen, weißen Ebene stand, zögerte sie. Sie hatte noch eine Chance alles zu ändern. Es mußte zu ändern sein!
    Ihr Atem ging schnell, als sie den Bogen vom Rücken nahm und hastig über das Holz rieb um es zu wärmen, mit dem Fuß zwischen Sehne und Bogen trat und die Waffe vorsichtig aufspannte.
    „Ich weiß, es ist lange her und es ist kalt. Aber bitte verlaß mich jetzt nicht.“ betete sie still, „bitte, bitte, bleib bei mir und verzeih mir,...sing für mich...“
    Dann lag der Griff in ihrer Linken und sie lief los. In den ersten Schritten begann sie geduldig den Bogen warm zu ziehen, ihre Rechte flog zum Köcher, nockte den ersten Pfeil ein. Und sie lief.
    Die Luft war eisig, sie brannte in ihren Lungen, ihre Lippen spannten und in ihren Ohren rauschte ihr Atem. Dann hörte sie die Hufe im Schnee hinter sich und obwohl sie das Geräusch erwartet hatte, überlief sie ein kalter Angstschauer. Sie umklammerte den Bogen, stoppte und sah sich um. Aus dem Wald preschte der Reiter hervor. Sie atmete ihre Angst in den Himmel, zielte nur einige Sekunden und lies den Pfeil mit solcher Gewalt von der Sehne schnellen, daß der Federkiel des Pfeiles ihr sofort die eisige Haut aufriß, als er über ihren Zeigefinger streifte.
    Der Reiter bückte sich an den Hals seines Pferdes, der Pfeil ging ins Leere. Aber Enyn sah das nicht. Sie rannte weiter, zog den nächsten Pfeil aus dem Köcher und blieb erneut stehen. „Atmen- das Ziel, das Ziel! Das ist eine Schlacht, deine Schlacht...“ die Worte hallten in ihrem Kopf. Der Pfeil zischte davon, sie rannte weiter. Der Reiter kam näher, so schwarz gegen die Helligkeit des Feldes wie er schwarz in ihrem Traum gewesen war.
    Sie rannte, konnte den nächsten Pfeil nicht greifen und spürte Panik aufwallen. Die obere Schicht des Schnees war gefroren, die Schritte knirschten wie durch Kristall brechend, das Vorwärtskommen war anstrengend und schwierig.
    Es war nicht mehr weit bis zum Schatten der Bäume. „..Das Ziel!“ Erneut blieb sie stehen und atmete. Einmal, noch einmal, griff den Pfeil und hob den Bogen. „Komm nur, noch ein wenig näher...“
    Das Pferd wieherte und bäumte sich auf in Schmerzen, aber der Reiter blieb fest im Sattel und trieb das verletzte Tier gnadenlos weiter auf sie zu. Enyn blieb stehen. Nur noch 10 Schritt von ihr brachte sie das Pferd zu Boden. Jetzt wand sie sich um und rannte. „Der Wald ist nah, noch 50 Schritt..., 40,-“ sie warf noch einen Blick über die Schulter, der Reiter war hinter ihr. Schnee glitzerte auf seiner schwarzen Kleidung. Und er war schnell. Zu schnell - fast schien es als breche er nicht im Schnee ein. Noch 20 Schritt, 10, der Wald, noch eine Blick über die Schulter, das vermummte Gesicht des Reitern war erschreckend deutlich. Seine Bewegungen angeheizt von unbändiger Wut stürzte er auf sie zu. Er schien gar nicht wie sie in den Schnee einzubrechen.
    Enyn sprang mit einem Satz über einen umgestürzten Stamm ins Gehölz. Sie hörte den dumpfen Fluch, als der Reiter stolperte. Euphorie durchdrang ihren Körper mit einem Adrenalinschub und jeder Satz brachte sie weiter von ihrem Verfolger fort.
    Dann, ohne genau darüber nachzudenken, blieb sie erneut stehen. „Er muß verschwinden. Er darf mir nicht folgen.“ In einer Bewegung, die sie tausend Mal getan hatte, wand sie sich mit einem neuen Pfeil um.
    Der Reiter war direkt hinter ihr. Das Tuch war von seinem Gesicht gerutscht und legte harte, bleiche Züge bloß. Er atmete schnell, bleckte die Zähne und in seinen kleinen schwarzen Augen glitzerte der Triumph, als er ohne Zögern zustieß.
    Enyn spürte einen undeutlichen Schmerz und taumelte überrascht rückwärts. Ein umgestürzter Waldriese hatte ein breites Loch in den Boden gerissen. Enyn stieß mit dem Rücken gegen den mächtigen Wurzelteller des Baumes, der wie ein Monument in den Himmel ragte. Ungewöhnlich laut nahm sie das Geräusch wahr, das die Erde machte, die auf ihre Kleidung niederregnete. Sie sah den Mann an, der da stand und zu Atem kam.
    „Ist das mein Blut an seiner Klinge?“ Sie kniff die Augen zusammen, als ihr Blick zu verschwimmen begann. Dann wieder schien es, als könne sie jeden Zentimeter von ihm erkennen wie durch eine Lupe. Schließlich umfing sie langsam Schwärze und sie fiel hinab in die Öffnung, ein, zwei Meter tief auf den steinigen Grund. Diesen Schmerz aber spürte sie nicht mehr.


    Enyn fühlte Wärme. Langsam kroch das Bewußtsein zurück in ihren Körper. Sie versuchte ihre Finger zu bewegen und ertastete einen weichen Untergrund ohne ihn wirklich zu spüren. Aber als sie ihren Arm heben wollte, versagte sie. Der Befehl schien nicht anzukommen und beim zweiten Versuch durchfuhr ihren Rücken ein so stechender Schmerz, der sie mit einem Male zurück in die Welt brachte und sie scharf die Luft einatmen lies.
    In ihrem Mund befand sich ein pelziges Gefühl, ihre Zunge fuhr über aufgesprungene Haut, als sie versuchte ihre Lippen zu befeuchten. Sie konnte den Kopf nicht drehen und ein taubes, stumpfes Gefühl im ganzen Leib ließ eine böse Ahnung in ihr aufkommen.
    Dann schlug sie langsam die verklebten Augenlider auf und erkannte verschwommen eine Gestalt, die im Halbdunkel neben ihrem Lager stand. Es war still, die Gestalt reglos. Ein seltsam vertrauter Geruch lag in der Luft. Ein Feuer knisterte gedämpft in der Nähe.
    „Kann mich nich' bewegen.“ brachte Enyn schließlich mit einem belegten Murmeln hervor, das ihr vorkam, als sei es von jemand anderen gesprochen worden, und verschluckte sich daran. Sie hustete und spürte etwas warm aus ihrem Mundwinkel rinnen. Es schmerzte im Rücken sobald sie auch nur einen Muskel anspannte.
    Die Gestalt beugte sich herab und legte ihr eine warme Hand auf die Stirn. Der Husten verebbte und ein feuchtes Tuch fuhr ihr weich über die Lippen.
    „Du bist gefallen und ein Schwert hat dich verwundet. Dein Rücken muß ruhen. Versuche nicht, dich zu bewegen.“
    Die Stimme des Mannes gehörte offensichtlich der Gestalt neben ihr.
    Enyn kannte die Schmerzen und sie wußte auch was ein Hexenschuß war. Sie wußte, das es diesmal schlimmer war als das. Sie schloß die Augen eine Sekunde und fluchte lautlos. Dann schluckte sie bitteren Speichel und sah die Gestalt wieder an.
    „Mein Bogen...?“ fragte sie langsam und obwohl sie kaum etwas erkennen noch richtig ihre Stimme gebrauchen konnte, brachte sie ein Höchstmaß an Dringlichkeit in die Frage ein. Der Mann, dessen Worte so ruhig und teilnahmslos waren, mußte lächeln.
    „‘Der singende Tod‘ ist bei dir.“ sagte er ganz nah bei ihr und in seiner eigenen Sprache, „Sorge sich nicht, Tochter von Rothschild.“
    Enyn’s Herzschlag verdreifachte sich von einer Sekunde zur nächsten. Sie versuchte den Schleier von ihren Augen zu blinzeln, sah den Mann zurückweichen und erkannte ungläubig mehr von seinem Gesicht. Ihr Atem stockte und sie schloß ihre Augen fest als ihre Sicht erneut von Tränen geblendet wurde. Ein Schluchzen schüttelte sie, und sie gab einen kläglichen Schmerzenslaut von sich.
    „Du stirbst nicht. Aber es braucht Zeit.“ sagte der Elb und beobachtete sie. Bald erkannte er aber, daß das nicht der Grund für ihr Weinen war, es war nicht die Furcht vor dem Tod.
    Enyn wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher. Denn sie schämte sich. Die Aufnahme in dieses Haus verdiente sie nicht. Sie verdiente es nicht, bei allem was ihr heilig war, von diesen Leuten gepflegt zu werden. Nicht nachdem sie nun schon ein zweites Mal den Untergang über sie gebracht hatte. Sicher hatte der Reiter das Banner genommen, das Banner, die einzig übrige Quelle der Kraft für die Elben.
    Sie weinte und jedes Schluchzen ließ die Schmerzen erneut durch ihren Körper fahren.
    „Es tut mir so leid...“ flüsterte sie in der Elbensprache, die plötzlich wieder lückenlos in ihrem Kopf auftauchte, „...es tut mir so leid...so leid... ich bin eurer Pflege nicht würdig...“
    Eine andere Hand berührte ihre Stirn und sie verlor langsam das Bewußtsein.


    4
    „Wie geht es ihr?“
    „Sie braucht noch Zeit. Sie schläft. Es ist besser so.“
    „Wird sie uns helfen können?“
    „Es kommt darauf an wieviel Zeit wir noch haben.“
    Elamar nickte und lächelte dem jungen Elben müde zu. „Danke, Firion, ich möchte nun selber noch etwas schlafen. Sage Jovelin, daß ich sie beim Rat treffe.“
    Firion nickte ebenfalls und verließ das Zimmer. Still blieb der Elbenherr zurück. Er saß auf der Kante des schmalen Bettes, seine Hände ruhten in seinem Schoß auf einer flachen Schachtel aus dunklem Holz, schlicht verziert und mit silbernen Beschlägen. Sein Blick ging aus dem kleinen Fenster aus dreifachen Glassornamenten, hinter dem sich neuer Schnee so friedlich über das Land legte, das man nicht an Krieg denken mochte.
    Dann klopfte es.
    „Komm herein.“ sagte Elamar, ohne die Stimme zu heben oder sich umzusehen in der Sprache der Menschen und mit einem Lächeln. „Wie geht es dir?“
    Ben schloß die Türe hinter sich und humpelte näher. „Ich lebe.“ sagte er und lächelte, „So gerade, aber ich lebe.“ Er blieb mit ernstem Gesicht neben dem Elben stehen. „Dank dir.“ Ben betrachtete sein gemartertes Gesicht, seine gebeugte Gestalt, seine von der Folter verkrüppelten Hände, die kaum mehr einen Bogen halten konnten und die Schachtel umfaßten wie einen jungen Vogel. Nur seine Augen sprühten voller Leben. Voller Hoffnung. Und Ben wußte, das der Elb an den Krieg dachte.
    Er lies sich auf den einzigen Stuhl im Raum sinken, gleich neben dem Fenster.
    „Du hättest das nicht machen brauchen. Du wärst selbst fast draufgegangen für mich und das hätte ich mir nie verziehen! Es gibt schließlich genug Menschen.“ sagte er leise und sah aus dem Fenster.
    „Aber zu wenige wie dich.“ antwortete der Elb einfach, „und das weißt du auch.“
    Ben drehte ihm mit einem verlegenem Lächeln den Kopf zu und betrachtete ihn, wie er sich langsam und mühsam auf das Lager zurücksinken ließ. Er trug eine lange, hochgeschlossene Tunika aus grauer Seide über seinem geschundenen Körper, der mit Blättern und Wickeln verbunden worden war und schloß nun die Augen.
    „Was macht Sonja?“ fragte er.
    Ben seufzte und sah wieder aus dem Fenster. „Sie spricht nicht. Jovelin ist bei ihr.“ Er schluckte und sah wieder zu Elamar hinüber. „Was ist mit Enyn?“
    „Sie schafft es.“ Der Elbenkrieger lies seinen Kopf müde zur Seite sacken.
    „Soll ich dich alleine lassen?“ fragte Ben.
    „Wie es dir gefällt.“ murmelte Elamar gleichgültig in seiner eigenen Sprache und schlief ein.