Thalion folgt seinem Gastgeber. Er sieht hinüber zum Übungsplatz.
"Wie lange trainieren eigentlich eure Wächter am Tag? ... Oh entschuldigt ... in der Nacht."
Thalion folgt seinem Gastgeber. Er sieht hinüber zum Übungsplatz.
"Wie lange trainieren eigentlich eure Wächter am Tag? ... Oh entschuldigt ... in der Nacht."
Die ernste Stimmung verfliegt wieder und Siniathon zeigt sich erneut höchst auskunftbereit. "Das hängt ganz vom Individuum ab. Wer hierher versetzt wurde, kennt die Prinzipien des Gruppenkampfes und weiß, dass die eigenen Fähigkeiten grundlegend für das Überleben des Nächsten sind. Es ist also vollkommen von der Opferbereitschaft des jeweiligen Hên abhängig. Aber ich wüsste von keinem, der nicht mindestens zwei bis drei Stunden Übungen irgendeiner Art absolviert."
Gerade treten sie an einem Baum vorbei, der dem 'Empfangsbaum' genau gegenüber liegt und ähnlich groß ist, um besseren Blick auf den Übungsplatz zu erhalten.
Thalion sieht sich die Kampftechnik etwas genauer an. Allerdings verzichtet er darauf sich Teile des Stils zu merken und ihn an seinen anzupassen.
"Wie lange wird trainiert, bis man einen Rekruten für reif genug hält, bis er eine Wächteraufgabe übernehmen kann? Habt ihr dafür Richtlinien?"
"Natürlich. Alle Hîn erhalten ab dem dreißigsten Lebensjahr eine grundlegende Ausbildung in allen Bereichen, die durch die Häuser repräsentiert werden. Hierüber wird gleichzeitig geprüft, ob eines besonderes Talent aufweist und eine nähere Ausbildung in einem der Häuser erfahren wird, also im Falle eines hauslosen Kindes irgendwann einmal zu einem assozierten oder gar ganzen Hausmitglied wird. Für letzteres sind jedoch zahlreiche Prüfungen von Nöten. Ebenso kann zu diesem Zeitpunkt, wie auch jederzeit an späteren, ein Hauswechsel stattfinden. Die Ausbildung zum en Cyrchanyon , also zu einem hauslosen Wächter, dauert in der Regel vierzig bis sechszig Jahre. Ganz nach Strebsamkeit des Individuums. Allerdings pendelt es sich in den Regelfällen etwa in der Mitte ein. Gerade die Cyrchanyon haben recht alte.. Rekruten , da sie häufig außerhalb der Siedlungen auf Mission sind, man diese allerdings erst mit dem hundertsten Lebensjahr alleine verlassen darf."
Thalion nickt bei den Ausführungen des Hên.
"Ich verstehe.
...
Dabei fällt mir ein ... ich hoffe das ist keine zu persönliche Frage ... welche Lebensspanne besitzen die Hîn Meneldû nach menschlichen Maßstäben?
Ich habe nämlich auch schon Elben kennen gelernt, welche sich als Alben bezeichnen und etwa 120 Jahre alt werden. Also etwa doppelt so alt, wie die Menschen, wenn man Magie außer acht lässt."
Da lacht Siniathon leise und vergnügt einmal auf, es scheint, als würde diese Frage häufiger gestellt werden.
"Ihr könnt mit Sicherheit davon ausgehen, dass kein einziges Mitglied dieser Botschaftssiedlung unter einhundert Jahren zählt. Wir leben so lange, bis wir unsere Aufgabe erfüllt haben. In Ausnahmen scheitert dies an einem frühzeitigen gewaltsamen Tod."
Entschuldigend lächelnd neigt er den Kopf. "Das mag euch nun keine genaue Antwort sein.. doch die Aufgaben die wir uns stellen sind selten so gehalten, dass man sie in fünf oder sechshundert Jahren rasch hinter sich bringen könnte."
"Für mich ist es genau genug."
Thalion sieht einen Moment hinüber zu den Trainierenden und siniert vor sich hin.
"Wie das wohl ist, so lange zu leben.
...
Es gibt so viele veschiedene Wesen und ich habe wohl schon mehr erlebt, als so manch anderer Mensch."
Er sieht Siniathon wieder an.
"Ich kenne sogar zwei Drachen und habe schon göttliche Wesen getroffen. ... Als ich das mal jemandem erzählt habe, wurde ich dafür sogar ausgelacht.", lacht er leise und schüttelt den Kopf.
"Irgendwie komisch, oder?"
Siniathon zeigt sich weder beeindruckt noch gelangweilt. Er nimmt die Information auf und blickt nachdenklich zu Thalion. "Es stimmt mich nicht verwunderlich, dass ihr schon ungewöhnlichen Ereignissen beigewohnt und für die meisten Menschen wohl mythisch anmutenden Kreaturen begegnet seid. Es spricht gegen jene Person, euch deswegen zu verlachen. Ihr seid Keiner, der falsches Wort spricht. Wie sagt man unter den Menschen?"
Eine kleine Pause erfolgt, dann spricht er mit einem Lächeln: "Alle Menschen haben zwar das Herz an derselben Stelle, aber nicht alle auf dem rechten Fleck."
Thalion neigt den Kopf leicht zur Seite und nickt.
"Eine sehr passende Methapher.
Manchmal denke ich darüber nach, was man alles an Wissen und Erfahrung sammeln könnte, wenn man so lange lebt wie die Elben oder andere ... wie sagtet ihr ... mythische Wesen.
Und dann komme ich öfter zu dem gleichen Ergebniss ... vermutlich würde mir bei dem ganzen Wissen der Kopf platzen."
Thalion lächelt. Die letzten Worte waren wohl teils ernst, teils belustigend gemeint.
Er dreht den Kopf.
"Momentan habe ich keine weiteren Fragen. Aber ihr wisst am besten, was ich noch nicht gesehen habe. Vielleicht sucht ihr die nächste Station aus."
"Ihr werdet noch genug Fragen haben."
Siniathon schlendert mit dem lupianischen Freiritter weiter. Um seine bodenlange Robe braucht er sich keine Sorgen zu machen: Der Moosboden ist zwar weich, aber nicht nass.
In einem kleinen Bogen gehen sie gezielt am Zentrum der Siedlung vorbei und hin zu einem großen Komplex, der aus einer zentralen ein Gebäude bildenden Gruppe besteht, die jedoch von einem weiteren Ring aus schlankeren einzeln stehenden Bäumen umgeben ist, deren Wipfel sich gezielt wie Torbögen zum nächsten neigen und so spitze Giebel entstehen lassen.
"Dies ist unser kleiner Tempel der Sternenschwestern. Näher dürft ihr nicht heran treten, verzeiht."
An den Bäumen sind nun bei genauerer Betrachtung kleine Kristalle zu erkennen, die mit der Rinde verwachsen scheinen.
Thalion nickt.
"Das respektiere ich natürlich."
Er betrachtet sich den Tempel genau.
"Die Sternenschwestern. Sind das die Göttinnen die ihr anbetet? Oder nennt ihr so die Hên welche dem Tempel dienen?"
Vor ihnen erstreckt sich zwischen dem deutlich kunstvoller geformten Gebäude und den Torbögen eine Art kleiner Park. Es mögen zwar nur wenige Meter sein, doch dort scheinen an unterschiedlichen Stellen Kristalle aus dem Boden zu wachsen.
"Es ist der Sammelbegriff für jene fünf Göttinnen, die uns als ihr Volk erwählten und uns damit unsere große Aufgabe stellten.
Leithianeth, die Befreiende - erwählte die erste Hausvorsteherin der Priesterinnen. Echadneth, die Schaffende - ihre Wahl fiel auf die Begründerin der Indoryst. Istaneth, die Wissende, nahm sich der ersten Matriarchin der Tel'Alan an. Luthianeth, die Zaubernde, wählte die erste Vorsteherin der Seraïne. Und letztlich Berianeth, welche die erste große Wächterin aussuchte. Jede dieser Göttinnen hat für ihr Haus, das sie mit der Wahl begründete, ein Ziel. So wie jeder von uns seine Lebensaufgabe kennt, gibt es darüber übergreifend diese. Und doch wir alle streben mit jenen großen und durch die Sternenschwestern in Perfektion manifestierten, Idealen und unserer persönlichen Mission auf dasselbe hin: Die Lösung der großen Aufgabe, die vollkommene Zurückdrängung der Entropie."
Thalion lauscht sehr gespannt den Ausführungen über die Sternenschwestern.
"Dann darf ich annehmen, im Tempel leben eure Priesterinnen?
Und was versteht ihr unter Entropie? Mir ist der Begriff nicht ganz geläufig."
"Ja, dort leben sie - in engster Verbindung mit den Sternenschwestern."
Siniathon wendet seinen Blick respektvoll vom Tempel ab und geht mit Thalion weiter, nun in Richtung des Siedlungszentrums.
"Entropie ist das zerstörerische Chaos, jenes, welches Welten vernichtet um nichts zurück zu lassen. Die ewige Leere, in der nichts besteht, das in der schwachen Form verändert, mutiert, pervertiert. Kreaturen dieses Chaos sind Dämonen, die in dieser Ebene gezwungen sind durch die geordnete Struktur Formen anzunehmen und sich einigen Gesetzen zu beugen. Wir, als Volk, bekämpfen die Entropie, denn sie ist die vollkommene Negierung."
"Dann gehören eure Sternenschwestern zu den Mächten des Guten, wie ich sie nenne."
Thalion führt seine Hände hinter dem Rücken zusammen und geht neben Siniathon her.
"Ich habe ebenfalls einen ähnlichen Weg gewählt, auch wenn ich einige Jahre brauchte, um zu erkennen das es mein Weg ist.
...
Existierte euer Volk schon bevor es von den fünf Göttinnen erwählt wurde?"
"Nein - woher wir kommen liegt im Dunkel der Zeit. Erst mit der Nacht, in der die Göttinnen sich der ersten Matriarchin der Matriarchinnen offenbarten, wurden wir die Kinder des Nachthimmels. Aus diesem Grund beginnt unsere Geschichtsschreibung erst zu diesem Punkt."
"Es ist gut, wenn man seine Aufgabe kennt. So wie ich das bisher gesehene interpretiere, lebt ihr diese große Aufgabe mit allen Konsequenzen und strebt darin nach Perfektion.
Ich vermute deshalb, es ist für euch nur eine Nebensächlichkeit, was vor der Erwählung eures Volkes gewesen ist?"
Siniathon nickt. "Vollkommen korrekt."
Inzwischen nähern sie sich dem ivor galadhremmen an. Der Platz um den Baum ist nicht bemoost, sondern mit handtellergroßen und offensichtlich perfekt aneinander gepassten sehr flachen Pflastersteinen aus milchigem Stein bedeckt.
"Unsere letzte Station für diesen verkürzten Rundgang."
Thalion betrachtet den Kristallbaum erneut mit Bewunderung in den Augen.
"Zu dem ... ich nenne es jetzt mal Herzstück ... eurer Siedlung, werde ich erst Fragen stellen, nachdem ich die Geschichte von euch gehört habe."
Dann geht sein Blick zu dem perfekt gepflasterten Boden.
"Doch kurz zu dem schönen Boden ... Habt ihr den etwa auch so wachsen lassen?"
Er hockt sich kurz hin um seine Hand über den Boden gleiten zu lassen.
"Es macht auf mich nicht den Eindruck, als ob es Kristalle sind. Wenn die Lupianischen Reichsstraßen so gepflastert wären, müsste man sich wohl keine Sorgen mehr über gebrochene Karrenachsen machen."
"Nein, dies sind tatsächlich geschliffene Steine, die angepasst und verlegt wurden. Sie stellen symbolisch unsere frühen Versuche da, die Kristallmagie zu meistern und sind als Schmuckstück über all die Jahrtausende erhalten geblieben."
Die leicht abgerundete Oberfläche der Steine fühlt sich glatt wie Haut an, auch wenn ihnen die organische Wärme fehlt.
Siniathon wartet, bis Thalion sich wieder aufgerichtet hat.
"Zu diesen Frühzeiten erlernten wir erst die Fähigkeiten, derart tief in das magische Netz zu blicken, wie es den Lathradith heute möglich ist. Eine der ersten unter ihnen hatte einen Punkt erreicht, an dem ihr Geist ausschließlich in dieser Ebene wandelte, anstatt in ihrem physischen Körper zu verbleiben. So wurde sie eins mit dem Material, das sie für ihre Arbeit nutzte: Kristall. Ihr neuer Körper wurde einer der ersten Speicherkristalle, der im damaligen Zentrum der Hauptstadt stand, ein mehrere Meter durchmessender idiomorpher Einkristall, der von polymorphen Kristallen umgeben war. In der größten Fläche, im vertikal aufragenden Einkristall, konnte man hin und wieder ihre Gestalt sehen.
Ein junger Vertreter der Echadith, der sein Leben dem Formen von Bäumen gewidmet hatte, war häufig dort zu finden denn er fand in ihrem Antlitz Inspiration für seine Arbeit. Doch er verlor seinen Weg - sein Streben nach Perfektion wurde durch seine Gefühle für den Geist jener getrübt, die in seiner Gegenwart häufiger ihre Gestalt unter dem Kristall zeigte. Über ein Jahrhundert hinweg war er jede Nacht bei ihr und sang ihr ein Lied, das seine innersten Gefühle ausdrückte.
Es gelang ihm nicht, wieder zu seiner Aufgabe zurück zu finden. Durch Magie versuchte er eins mit ihr zu werden.
Als die Götinnen dies sahen sprachen sie: Frevel!
Und Leithianeth blickte auf die beiden hinab, die sich dem Willen des Schicksals entziehen wollten, sprach ein Wort und sie wurden eins. Er, einer der Echadith, brach zusammen und aus seinem Leib schlugen Wurzeln in den Kristall, in dem sie gefangen war. Ihre Geister wurden eins - und doch bleiben sie stetig getrennt. Sie wurden zum ersten ivor galadhremmen - alle dieser Bäume stammen von ihnen ab, sind Teil des ersten und mit diesem verbunden und doch gleichzeitig Individuen mit eigenen Erfahrungen.
Die Abtrünnigen leben nach wie vor in seiner Struktur, als semibewusste Entitäten, sind Wächter über die Integrität und Funktionalität des Konstrukts. So erfüllen sie letztlich doch eine Aufgabe für das Volk, von dem sie sich aus Selbstsucht abwenden wollten.
An diesem Tag gewann Leithianeth die Macht über das Schicksal und seitdem können wir mit Recht sagen, dass alleine sie unseren Weg bestimmt."