<<< Taverne "Zum Zaunkönig" (5)"
Lene trat aus der Taverne. Der Dorfplatz war leer und auch die Gassen, die sie einsehen konnte. Waschweib hätte schreien mögen vor Frustation! Hätte der Schankbursche ihre Bezahlung nur nicht so lange herausgezögert, dann hätte sie sehen können wohin die zwei gegangen waren. Schnell rannte sie zur nächstgelegen Gasse und schaute dort hinein: Nichts!
So klapperte sie alle Gassen ab, die in den Dorfplatz mündeten, aber überall war dasselbe Ergebnis: Der Zuhälter und sein Mädchen waren verschwunden. Was nun? Sie überlegte fieberhaft. Wenn der Schankbursche mit dem Zuhälter unter einer Decke steckte, konnten möglicherweise auch die ganzen anderen Informationen, die sie von ihm hatte, falsch sein. Ob der Name des Zuhälters wirklich Miroslav Mytholon war? Irgendwie klang das doch seltsam. Fast wie ein Deckname! Vermutlich war es auch eine Lüge, das er ein Studiosus sein sollte. Lachhaft! So einer doch nicht!
Mit hängenden Schultern wollte Lene gerade aufgeben - sie stand gerade an dem Weg zur Unterstadt - da tauchte der Zuhälter alleine wieder aus einer der gegenüberliegenden Gassen auf. Er kam aus der Oberstadt! Vermutlich hatte er sein Mädchen bei einem wohlhabenden Kunden in der Oberstadt abgeliefert! Ein Skandal! Sozusagen ein Hausservice für die reichen Händler und Adeligen, die dort wohnten. Unglaublich! Das Waschweib zitterte vor Aufregung und Empörung - und vor Kälte.
Plötzlich wurde ihr noch kälter. Der Mann kam direkt auf sie zu! Natürlich! Er wollte in die Unterstadt - dorthin, wo solches Gesindel wie er sich üblicherweise herumtrieb! Hoffentlich hatte er sie nicht gesehen. Lene blieb kein anderer Ausweg: Sie konnte nicht auf den Dorfplatz zurück, sondern musste vor dem Zuhälter die Gasse zur Unterstadt hinab fliehen, in der Hoffnung, dass er sie nicht erwischte. Sonst würde sie vielleicht auch in einem Bordell enden!
Lene rannte mit klopfendem Herzen die Gasse zur Unterstadt hinab. In der Dunkelheit war es gar nicht so einfach, auf dem Weg auszurutschen oder einen Fehltritt zu machen. Sie hastete an dem neu gebauten Wohnheim der Akademie vorbei, welches sich an der Grenze zwischen Unter- und Oberstadt befand.
Das Mädchen war sehr hübsch und jung gewesen. Sie hingegen war nicht mehr so... nun ja... taufrisch. Wenn der Zuhälter sie erwischte, würde sie sicherlich nicht wie das Mädchen die Reichen bedienen, sondern eher die Seeleute, die nach langer Fahrt, gierig nach einem Weibe lechtzen und eher ruppig mit den Dirnen umgingen. Lene errötete bei dem Gedanken, was die Seeleute mit ihr anstellen würden. So lange hatte kein Mann sie berührt - sie verdrängte den Gedanken - und das würde auch so bleiben, schwor sie sich - wenn nur der Zuhälter sie nicht erwischte!
Da blieb ihr Fuß an einer Unebenheit der Straße hängen, sie stolperte, knickte um und stürzte. Ihr leerer Wäschekorb flog in hohem Bogen auf die Straße. Ein Schmerzensschrei entwandt sie sich ihren Lippen. Sie rappelte sich wieder auf. Bestimmt hatte der Mann sie gehört! Eine Welle der Panik überschwemmte sie. Ihr rechtes Knie war blutig und ihr Rock hatte war dort aufgerissen und mit Blut und Dreck verschmiert. Lene wollte weiter hasten, aber ein weiterer Schmerzenschrei entrang sich ihrer Kehle. Ihr Fuß war umgeknickt und schmerzte höllisch beim Auftreten. Sie konnte nicht mehr laufen, sondern nur noch humpeln. Jetzt würde der Zuhälter sie bestimmt einholen!
Hüpfend und manchmal an Seitenmauern des Weges abstürzend humpelte Lene weiter. Es dauerte eine Ewigkeit, ehe sie die erste Seitengasse der Unterstadt erreichte. Der Zuhälter hätte sie eigentlich längst einholen müssen. Warum hörte sie ihn nicht? Sie sah sich um, sah aber niemanden.
Sie stöhnte leise. Ihr Knie und der umgeknickte Fuss pochten sehr schmerzhaft. Warum nur, hatte sie sich auf eine so gefährliche Mission eingelassen? Und wenn der Zuhälter nun gerade in diese Seitengasse abbog? Sie war verloren! Sie konnte nicht weiter fliehen. Erschöpft und schwer atmend sank sie an einer dunkle Hauswand herab. Nicht dunkel genug, wie ihr schien. Ihr Fuss beschwerte sich dafür mit einer weiteren Welle des Schmerzes. Mit etwas Glück würde der Zuhälter sie nur für eine arme Bettlerin halten. Anspannt lauschte sie auf die Schritte, die sein Kommen ankündigen mussten. Vielleicht hatten die Fünfe ein Einsehen mit ihr und liessen ihn stur geradeaus gucken und an ihrer Gasse vorüberlaufen. Wenn nicht, dann würde sie sich in ihr dunkles Schicksal fügen - sie hatte keine Kraft mehr.
Die Zeit verging, aber sie hörte keine Schritte. Sie hörte eine Katze fauchen und ein kleines Tier - eine Maus oder Rate - angstvoll quicken. Lene stellte sich vor, dass sie dieses Tier war - und der Zuhälter die geschmeidige Katze, die sie fangen würde.
Dann nach unendlich langer Zeit - so schien es ihr - hörte sie Schritte, schwere Schritte von mehreren Leuten. Sie hörte das Scheppern von Metall. Lenes Herz rutschte in ihren Hals und laut hörte sie das angstvolle Klopfen ihres eigenen Herzens. Dann schritten zwei Gardisten der Stadtwache federnden Schrittes an ihrer Seitengasse vorbei. Sie kamen aus der Oberstadt. Lene wollte um Hilfe rufen, aber ihr Mund war wegen der Aufregung ganz trocken und sie brachte kein Wort heraus. Die Gardisten entfernten sich, ohne sie gehört zu haben.
Lene blieb reglos sitzen. Die Kälte der Straße zog an ihrem Körper hoch und sie begann wieder zu frieren. Ihre Zähne klapperten, aber nichts geschah. Nach weiteren endlosen Minuten oder Stunden dämmerte Lene, dass der Zuhälter nicht mehr kommen würde. Sie war von den Fünfen verschont wurden. Inbrüstig schickte sie ein Dankesgebet los und beruhigte sich ganz langsam wieder. Vorsichtig versuchte sie sich zu bewegen und aufzustehen. Mit dem Fuss ging es etwas besser oder sie spürte den Schmerz wegen der Kälte kaum noch. Langsam humpelte sie zurück zum Hauptweg. Sah sich um - nichts. Dann humpelte sie weiter zu ihrer Unterkunft in der Unterstadt.
Den ganzen Weg über grübelte Lene über die Frage, wohin der Zuhälter verschwunden sein mochte.