Beiträge von Marie Babette de Moriba

    Marie stand erst wieder von ihrem Gebet auf, als Fanny ins Zimmer, um Marie ins Nebenzimmer zu holen, wo die Wanne mit heißen Wasser auf sie wartete.


    Maries Körper fühlte sich schwer an. Sie war so müde, dass sie Mühe hatte, aufzustehen und stützte sich am Bett ab.


    Sie zog ihre Kleidungsstücke aus. Hier war es herrlich warm im Raum, brannte gar ein großes Feuer im Kamin, wo der große Kessel mit warmen Wasser hing.


    Als sie den ersten Fuß und dann den zweiten ins Wasser gleiten ließ und sich dann in die Wanne heineinsetzte kam es ihr so vor, als würde sie sich in ein warmes Bett legen. Genussvoll ließ sie sich völlig hineingleiten.


    Fanny setze sich neben sie an die Wanne und hielt einen Schwamm. Marie setzte sich wieder hin und ließ sich den Rücken waschen... hmm... dieser Duft. Rose. Ihr Lieblingsduft. Marie nahm die Seife und wusch ihr Haar gründlich. Es roch nach Meeresluft.


    Sie tauchte unter, um es auszuspülen. Marie dankte Fanny und bat sie, sie alleine zu lassen. Wieder ließ sie sich zurückfallen und genoss die volle Wärme der Wanne. Sie schloss die Augen und seufzte.


    Ihre Lider brannten vor Müdigkeit. Eben noch hatte sie an Clarisse gedacht, da war sie schon eingeschlummert in dieser wohligen Wärme...


    Fanny kam eine gute halbe Stunde später wieder herein, um nach ihrer Herrin zu sehen. Sie sah, dass Marie tief in die Wanne herabgeglitten war. Ihre Nase lag kurz vor der Wasseroberfläche. Schnell weckte Fanny Marie, bevor sie sich verkühlte, denn das Wasser war nurmehr lauwam.


    Schnell trockneten beide Frauen Maries Körper ab und zum Schluss wurde Marie in ein riesiges weißes Laken hineingewickelt. Ganz schnell ging man hinüber in ihr altes Schlafgemach, in dem es ebenfalls mittlerweile schön warm war, da auch dort ein Feuer im Kamin brannte. Ohne ein Wort zu sagen, oder ein Nachtgewand anzulegen, legte Marie sich in das große Bett und entglitt in die Welt der Träume.


    Fanny deckte ihr "kleines Mädchen", wie sie immer noch nannte, auch wenn dieses kleine Mädchen zu einer Frau herangewachsen war, zu und stand dort noch eine Weile, um sie zu beobachten. Ihr tat es unendlich leid, dass ihr Herr sie geschlagen hatte. Das war nicht Recht, denn jeder, der Marie kannte wusste, sie würde nie etwas tun, um jemanden zu schaden, sondern im Gegenteil. Aber sie wusste auch, warum Herr de Moriba so reagiert hatte. Seufzend drehte sie sich um und ging hinaus.

    Marie schluckte schwer bei den Worten ihres Vaters. Sie hatte ihn enttäuscht... diese Worte hallten immer wieder in ihr. Enttäuscht - ja - aber doch nur, um einer anderen Person zu helfen.


    Mit hängendem Kopf ging sie in den Flur, wo aufgeregt Fanny wartete.


    Diese ging schnell zu ihrer Schutzbefohlenen und fragte: "Ist es wahr, Clarisse ist weg?"


    Marie nickte nur wortlos. Sie fühlte sich unendlich müde und erschöpft.


    "Fanny, ich möchte nun alleine sein. Ich gehe nach oben. Vielleicht könntest Du mir bitte heißes Wasser bringen lassen. Ich möchte mich waschen - nein, lieber baden. Wer weiß, wann ich das nächste Mal dazu kommen werde, wenn ich erst einmal am Bord der 'Nebelfalke' bin. Und neue Kleidung benötige ich auch. Lass doch bitte mein Reisekleid von meinem Heim holen, das grüne mit dem Karomuster..."


    Dann ging Marie nach oben. Am Treppenabsatz blieb sie stehen und schaute auf die zwei Türen. Sollte sie in ihr altes Schlafgemach gehen oder ins Gästezimmer? Ihr altes Schlafgemach hallte es in ihr.... alles hatte sich verändert. Dies war zwar ihr Zuhause, doch in einigen Stunden würde sie ihrem neuen Zuhause entgegenfahren. Sie hatte ihr Zimmer freudig Clarisse überlassen und die war nun nicht mehr da.


    Sie ging in ihr altes Zimmer und setzte sich auf das Bett.


    Sie dachte an Clarisse und was sie wohl jetzt tun würde - da draußen, ganz allein. Sie hoffte, dass ihr Vater sie nicht finden würde, denn sie wünschte ihr den Ärger einfach nicht. Sie wusste ja, wie streng ihr Vater war. Doch selbst sie hätte nicht gedacht, dass er sie jemals schlagen würde. Vorsichtig streichelte sie sich die Wange.


    Dann rutschte sie vom Bett ab und ging davor auf die Knie und betete. Sie hatte noch Buße zu tun... und sie betete wieder für den Schutz von Clarisse und ihrem Entkommen.

    Marie's Kloß im Hals schien anzuwachsen... sie hatte das Gefühl, jemand drückte ihr den Hals zu.


    "Vater, ich - es tut mir leid... ich... also... ich war im Hafen, weil...," Marie unterbrach kurz, sah ihren Vater aber lieber nicht in die Augen, denn sie wusste, dass sein Blick auf ihr ruhte.


    Sie entschied sich, von vorn anzufangen:


    "Ich erwachte in der Nacht von einem Alptraum. Ich nächtigte im Gästezimmer, da Clarisse nach unserem Gespräch gestern Abend sehr schnell in ihr Zimmer gegangen war und ich dachte, sie wolle vielleicht ihre Ruhe haben. Ich stand also in der Nacht auf und es war so kalt im Zimmer... da bin ich rüber in mein altes Schlafgemach und da war Clarisse weg. Nur ein Brief lag dort..."


    Puhh... das war zwar ein wenig die Wahrheit beschönigt... sie würde nachher dafür beten und Buße tun.


    "Ich wollte das Haus nicht wecken - schon gar nicht Dich angesichts des Erlebtem am Abend zuvor - und habe mich deswegen angekleidet und bin Richtung Hafen, um sie zu suchen. Sie konnte ja schließlich nicht lange weg sein. Aber ich habe sie nicht gefunden. Dafür hat mich Frau Fernandez aufgegriffen. Sie sagte mir, ich solle lieber gleich nach Hause gehen. Doch ich schlug ihre Aufforderung in den Wind, weil ich Clarisse finden wollte. Ich weiß, das war sehr unüberlegt von mir, aber ich wollte doch, dass sie wieder nach Hause kommt... dann griff mich die Kapitänin ein weiteres Mal auf - sie war mir wohl gefolgt - und hat dann darauf bestanden, mich nach Hause zu bringen."


    Sie schaute vorsichtig zu ihrem Vater hoch.


    "Es tut mir wirklich leid, Vater. Ich wollte doch nur... Du solltest Dich doch nicht aufregen... ich...."

    *Klatsch


    Marie war geschockt. Ihr Vater hatte sie noch nicht geschlagen. Erschrocken schaute sie ihn mit großen Augen an und rieb sich die Wange.


    Sie wollte weg von ihm, doch dann hielt er sie zurück.


    Sie schaute verlegen zur Kapitänin... warum nur bekam sie jetzt alles ab, dabei war alles Clarisse's Schuld. Wäre sie nicht weggelaufen... wäre sie nicht so dumm gewesen, im Hafen nach ihr zu suchen... Ja - sie hatte selbst schuld, das wusste sie ja auch...

    Marie schluckte mehrmals als sie ihren Vater die Treppe herunterkommen sah, aber der große Kloß im Hals wollte nicht vergehen. Ihr war schlecht... was sollte sie bloß sagen?


    'Die Wahrheit natürlich' meldete sich ihr Gewissen. Doch ihr Herz sagte ihr: 'Verschaff Clarisse Zeit'. Ihr kam es vor, als würden beide einen Kampf ausfechten und sie stand mitten drin. Warum war sie nicht im Kloster geblieben. Die Welt hier draußen war so kompliziert.

    Marie seufzte. Sie würde nun nicht noch Öl ins Feuer gießen, wenn sie erwähnte, dass sie einen Schlüssel hatte...


    Also klopfte Marie vorsichtig an der Tür und starrte ängstlich die Tür an.


    Nach einiger Zeit öffnete ein sehr müde wirkende junge Magd.


    "Fräulein Marie?" sagte sie erstaunt und öffnete weit die Tür.


    "Anna, holtst Du bitte meinen Vater!?"


    Anna schaute über die Schulter ihrer jungen Herrin und krauste die Stirn.


    "Sicherlich? Er schläft bestimmt noch ganz tief und fest...," sagte diese vorsichtig.


    "Ja, bitte - es muss sein," sagte Marie zu ihr und schaute dann zu Frau Fernandez.


    Anna ging leise und doch schnell die Treppen hoch und klopfte am Schlafgemach ihres Herrn an...

    Marie resignierte. Das konnte ja etwas geben.


    Sie hatte ganz und gar keine Lust noch schneller zu gehen, als sie es ohnehin schon tat.


    Sie kamen zur Straße, in der ihr Haus stand. Vor der Tür hielt sie inne und drehte sich nochmal zur Frau Kapitänin.


    Doch diese sah sie noch immer kühl an.


    Hölle! Dabei wollte sie nur Clarisse helfen und war in dieser Situation. Ja, sie hatte sich das auch selbst eingebrockt, aber alles nur, um Clarisse ihr Erspartes zu geben, damit sie über die Runden kam. Sie gönnte ihrer Cousine die Freiheit...


    Freiheit... ach... warum war sie nicht als Mann geboren. Als Mann hatte man es soviel einfacher in der Welt. Es hätte niemanden gescherrt, wenn sie bzw. er alleine im Hafen herumgegangen wäre.

    Marie riss erschrocken die Augen auf.


    "Nein, bitte alles - nur das nicht! Bitte lassen wir meinen Vater schlafen. Er darf das hier nicht erfahren! Bitte..."


    Marie fasste sich an die Stirn und ging auf und ab. Was sollte sie denn tun?


    Wenn Ihr Vater wüsste, dass sie sich hier alleine rumgetrieben hatte, obwohl sie ihm doch versprochen hatte... und vor allem würde auffliegen, dass Clarisse weg ist und dass sie nicht eher Bescheid gegeben hatte...


    Sie schaute gen Himmel und betete im Gedanken: 'Oh, unsere Heilige, bitte helf mir doch!'


    Dann schaute sie die Kapitänin an und ging Richtung Stadtkern, vorbei an zahlreichen Schiffen, Kontorengebäuden. Am Horizont sah man die Morgenröte aufsteigen. Die ersten Vögel zwischerten immer lauter. Sie musste schneller gehen. Aber sie musste auch versuchen, diese Frau zu überreden, ihr Geheimnis zu wahren.


    "Frau Fernandez, darf ich Euch von Frau zu Frau etwas anvertrauen, etwas Persönliches, ein Geheimnis? Ich möchte Euch erklären, warum ich hier alleine bin - es ist nicht so, wie Ihr wahrscheinlich denkt."

    Marie nickte nur. Es war wohl das Beste, wenn sie nach Hause kam. Sie würde Clarisse sicherlich nicht alleine finden.


    Sie schaute die Frau Kapitän an.


    "Ihr... was... werdet Ihr noch tun? Ihr wollt mir doch nicht wirklich die Hammelbeine langziehen?"


    Marie ging einen Schritt zurück und schaute die Frau ihr gegenüber an. Eine Falte auf ihrer Stirn bildete sich. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Frau ihr gegenüber tatsächlich Hand an sie anlegte... aber sie kannte sie halt auch nicht besonders gut und sie arbeitete mit Männern und machte sicherlich ganz andere Dinge, die sich jemand wie Marie nicht vorstellen konnte.

    Marie erschrak, als sie die Hand auf ihrer Schulter spürte, dass sie aufsprang, sich umdrehte und das Messer fest in ihrer Hand vor sich hielt, um sich zu verteidigen.


    Erst jetzt erkannte sie die Frau. Sie senkte das Messer.


    "Ihr?! Aber ich dachte..." Marie brach ab... War sie die ganze Zeit von ihr verfolgt worden? Und warum hatte sie sie nicht gleich angesprochen, sondern bis hier her verfolgt.


    "Bitte, ich kann es Euch erklären!" fing Marie an. Aber wie sollte sie es ihr erklären und vor allem, würde es sie interessieren? Sie kannte sie nicht sonderlich gut...

    Maries Augen weiten sich und sie öffnet den Mund, um zu protestieren, schließt ihn aber schnell wieder, weil sie überlegt, dass es besser wäre, die Kapitänin nicht gegen sie aufzubringen, damit sie sie nicht verriet.


    "Jawohl, Frau Fernandez - Danke."


    Und damit drehte sie sich um und ging - scheinbar - wieder Richtung Hauptstraße, die aus dem Hafen führte.


    Sie traute sich kaum, sich umzudrehen, hatte sie Angst, die Kapitänin würde ihren Plan durchschauen.


    Marie hatte ganz und gar nicht vor, nach Hause zugehen.


    Als sie glaubte, genug außer Sicht zu sein, presste sie sich abermals an eine dunkle Hauswand und schaute erst jetzt wieder zurück. Sie sah niemanden mehr... sie legte die Hand auf ihre Brust, denn ihr Herz pochte vor Aufregung. Das ist ja noch einmal gut gegangen.


    Vorsichtig, immer an der Häuserwand entlang, ging sie langsam schleichend wieder in Richtung Hafen.


    Sie wagte sich kaum, zu atmen, damit ihr Atem sie nicht verriet, denn es war wirklich kalt in dieser Nacht.


    In Kürze war sie wieder an den Kisten angelangt. Sie ging vorsichtig an ihnen vorbei, immer schauend, ob sie etwas oder jemanden erkennen konnte.


    Sie schaute in den Himmel. Am Horizont wurde es schon heller. Die Morgendämmerung begann langsam. Sie musste sich beeilen.


    Sie ging die Straße entlang, in der sie Clarisse gefunden hatte. Hektisch schaute sie sich immer wieder um und flüsterte den Namen ihrer Cousine.


    Dann sah sie eine Bank und setzte sich für einen Augenblick... was tat sie hier überhaupt? Sie würde sie nie finden. Sie nahm ihr Gesicht in ihre Hände und fing an zu weinen. Sie würde nach Hause gehen müssen... bevor die Stadt erwachte... bevor ihr Vater erwachte.

    Erschrocken zuckt Marie zusammen und dreht sich zu der bekannten Frauenstimme um. Die Kapitänin der 'Nebelfalke' stand vor ihr.


    'Verdammt!' dachte Marie.


    "Ich, also... ich... Guten Morgen, Frau Kapitänin Fernandez." Marie schluckte. Wie sollte sie der Frau und den beiden Matrosen neben ihr erklären, was sie hier suchte, ohne Clarisse zu verraten? Oje... sie war doch so schlecht im Lügen.


    Sie schaute auf die Matrosen, die den Smutje aus der Kiste holten. Und sie dachte, es wäre vielleicht Clarisse... sie seufzte.


    "Ähm... ich danke Euch für Euer Angebot. Ich hatte etwas gesucht, was ich vielleicht hier verloren hatte, als ich heute im Hafen unterwegs war. Aber ich werde es wohl nicht finden," log sie und schaute dabei auch nicht die Kapitänin an, sondern tat so, als würde sie den Boden absuchen.


    "Ihr müsst mich auch nich nach Hause bringen - ich werde mich gleich alleine dorthin begeben."


    Dann schaute sie die Frau vor ihr an und beugte sich zu ihr. Flüsternd sagte sie zu ihr: "Und bitte - dass ich hier allein war... ich wäre Euch zu Dank verpflichtet, wenn Ihr niemanden von unserer Begegnung hier erzählen würdet."


    Mit großen Augen sah sie die Kapitänin an - ob sie ihr diesen Gefallen tun würde? Wenn heraus kam, dass sie hier alleine herumlief, zu dieser Uhrzeit und wenn dann auch noch herauskäme, dass sie eigentlich ihre Cousine, die weggelaufen war, suchte, dann wäre der Teufel los!

    Marie träumte sehr schlecht und wälzte sich im Bett umher... sie hatte das Gefühl, wieder einmal verfolgt zu werden. Vom wem oder was konnte sie nicht sagen - doch in ihrem Traum lief und lief sie... irgend wohin über weite Felder in die Leere... Plötzlich tauchte Clarisse vor ihr auf und winkte ihr zu, doch im Nebel konnte sie nicht genau sehen, wo sie war und vor allem, wer hinter ihr war. Plötzlich ergriff sie eine kalte Hand von hinten an der Schulter - sie schrie....


    Marie wachte schweißnass auf, völlig außer Atem. Sie schaute sich um und brauchte einige Minuten, um zu erkennen, wo sie war. Sie stand auf und ging zum Waschtisch, um sich den Schweiß aus der Stirn zu wischen. Doch leider war kein Wasser in der Kanne, wusste doch niemand, dass sie hier nächtige und nicht drüben in ihrem Zimmer. Sie nahm das Handtuch und trockete sich die Stirn... erst jetzt bemerkte sie, dass sie auch auf der Brust ganz feucht war... der dünne Stoff klebte an ihr. Kälte stieg an ihr herauf. Im Zimmer war es sehr kalt, da kein Feuer gebrannt hatte... Marie frierte unweigerlich und bibberte mit den Zähnen. Schnell kroch sie wieder unter die noch warme Decke.


    Ihre Gedanken wanderten zu Clarisse. Die Nacht war so kalt - wo sie wohl war? Hoffentlich hatte sie es gemütlich und trocken. Dann fragte sie sich unweigerlich, ob Clarisse überhaupt Geld zur Verfügung hatte, um in einem Gasthaus zu nächtigen.


    Marie stand wieder auf, zog sich komplett an. Die Stiefel hatte sie noch nicht angezogen und nahm sie unte die Arme. Die Absätze würden sie verraten, wenn sie über den Holzboden ging. Leise schlich sie sich die Treppe hinunter ins Arbeitszimmer ihres Vaters. Dort hatte sie in eine Bücherregal ein kleines Versteck für Geldmünzen eingerichtet. Sie öffnete es und nahm alle Münzen, die sich dort drin befanden in einen Geldbeutel. Den steckte sie in ihre Rocktasche.


    Wieder leise schlich sie sich in den Flur hinaus, zog ihren Mantel an inklusive dicken Schal und einem Hut mit breiter Krempe. Aus der Schublade im Flur zog sie ein kleines Messer und steckte es sich in ihren Rockbund. Sie ging den schmalen Seitenflur ins Ladengeschäft, hängte die Türglocke aus und öffnete die Ladentür.


    Kalter Nebel kam ihr entgegen und sie begann unweigerlich zu frieren. Vor der Tür auf der Straße zog sie sich schnell ihre Stiefel an und ging leise die Straße entlang. Unweigerlich führte ihr Instink sie in den Hafen - warum wusste sie auch nicht. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Clarisse alleine in den dunklen Wald außerhalb der Stadt gegangen war. Und da sie vorhin im Hafen weggelaufen war, hatte sie das Gefühl, sie könnte sie vielleicht hier finden.


    Im Hafen waren um diese Zeit nur vereinzelt Menschen unterwegs... einige Betrunken, die von der Taverne nach Hause gingen, andere, die auf dem Weg zur Arbeit im Hafen waren. Sie presste sich einige Male an dunkle Häuserwände, um nicht aufzufallen. In der rechten Hand hielt sie das Messer fest umschlossen.


    Marie schlug unbewusst die Richtung ein, in der sie Clarisse gefunden hatten. Vielleicht war sie wieder hier...


    Es war sehr dunkel und sie sah nicht viel und doch versuchte sie, in jeder Ecke etwas erkennen zu können. Ab und an rief sie leise den Namen ihre Cousine.
    Sie wusste nicht mehr, wie viele dunkle Ecken und Kisten, Bänke und Bäume sie durchsucht hatte, als sie über ein dickes Tau in der Nähe von gestapelten Kiste stolperte. Autsch... Marie fiel hin. Als sie sich aufraffte, sah sie im schwachen Laternenschein ein Fuß aus einer der Kisten herausschauen. Schnell richtete sie sich auf und ging vorsichtig auf die Kiste zu.


    Das Wesen war mit Stroh und einem Mantel bedeckt. Es lebte noch, denn Dampf stieg aus der Kaputze heraus.


    "Clarisse?" flüsterte sie...

    Ihre Cousine war hinaus gestürmt und Marie wollte ihr folgen. Doch ihr Vater hielt sie auf mit Fragen auf, u.a. wann sie morgen das Haus verlassen würde, damit er rechtzeitig die Kutsche anspannen lassen konnte.


    Er und Isabell hatten vor, sie zu begleiten und am Hafen zu verabschieden. Marie bat, dass auch Fanny und Prya mit durften.


    Marie bat ihren Vater noch, alleine in die Frühmesse ihrer Kirche zu gehen. Er bemerkte, dass sie nicht alleine gehen sollte. Sie sollte sich Fanny und einen der Wachtposten aus dem Kontor mitnehmen. Marie war einverstanden. Sie wollte doch noch einmal ins Waisenhaus, das nicht unweit der Kirche war.


    Dann ging Marie in den Flur hinaus. Dort wartete angespannt Fanny. Marie versicherte, dass alles in Ordnung sei und küsste ihre alte Kinderfrau und wünschte eine gute Nacht.


    Müde ging sie die Treppe hinauf. Was für ein Tag. Sie klopfte an ihr altes Gemach, aber keiner rief sie herein. Vorsichtig öffnete sie die Tür. Aber keiner war im Zimmer. Komisch - sie hatte Clarisse hier erwartet, wollte diese doch, dass sie zusammen ihre letzte Nacht verbrachten. Sie trat ein... vielleicht war sie noch einmal in die Küche gegangen, um etwas zu essen. Sie rieb sich den verspannten Nacken... ein heißes Bad oder eine Massage wären schön. Aber es war schon spät und sie wollte niemanden mehr bemühen.


    Sie setzte sich aufs Bett und zog sich die Schuhe aus. Dann sah sie den versiegelten Brief auf dem Kopfkissen liegen. Ihr Name stand darauf. Komisch... sie nahm ihn, brach das Siegel und las. Ihre Augen weiteten sich... Nein! Clarisse war abgehauen! Das konnte doch nicht sein!


    Sie stand auf und schaute sich im Zimmer um... nichts von ihr lag mehr irgendwo herum... nicht auf der Kommode, auf dem Waschtisch... sie öffnete eine Truhe... leer - nur ihre alten Sachen...


    Sie ging auf und ab und rieb sich die Stirn... nochmals las sie den Brief - immer und immer wieder.


    Marie war hin- und hergerissen. Was sollte sie tun? Ihren Vater informieren und sofort nach ihr suchen lassen? Oder aber ihr die Chance geben, ein selbstständiges Leben zu führen und die Freiheit zu genießen, die sie kannte... im Gegensatz zu ihr selbst?


    Marie kniete vor dem Bett und faltete ihre Hände und betete zu ihrer Schutzheiligen... Bitte lass es ihr gut gehen... beschütze sie auf all ihren Wegen... lass mich jetzt das Richtige tun.


    Sie atmete tief ein und stand auf, nahm den Brief, schloss ihn wieder und wärmte das Siegel an, um es wieder zu schließen. Dann legte sie ihn zurück auf das Kopfkissen, nahm ihre Stiefel und verließ ihr altes Zimmer. Sie ging ins Gästezimmer, das immer zur Verfügung stand, schluckte den Kloß und die Tränen herunter. Marie zog sich ihr Tageskleid aus, so dass sie nur noch ihr Unterkleid an hatte... die Strümpfe wurden ausgezogen und ebenso ihr Haarschmuck und ihre Ohrringe. Sie schaute auf den Ring ihrer Mutter, den sie trug und dachte, wie alles wohl anders geworden wäre, würde sie noch leben. Sie legte sich in das kalte, aber gemütliche Bett und deckte sich zu...


    "Oh, Clarisse! Ich hoffe, Du weißt, was Du tust und wirst sicher sein", sagte sie leise... Sie konnte verstehen, dass sie gegangen war... wie oft hatte sie daran gedacht, ihr Heim zu verlassen, weil sie sich hier eingesperrt fühlte. Aber sie hatte und kannte nichts anderes als dieses Heim oder eben das Kloster. Sie hatte nur die einen dicken Mauern gegen andere eingetauscht.


    Trotzdem war sie sehr traurig über diesen Umstand, dass sie weg war. Es war, als hätte sie wieder ein Familienmitglied verloren. Sie hatte sich so über ihre Anwesenheit gefreut... und anscheinend lag Clarisse nichts an ihr oder ihrem Vater, wenn sie sie verließ. Und dabei hatte Marie versucht, ihr es so einfach wie möglich zu machen...


    Sie wollte... und da waren ihre Augen auch schon so schwer geworden, dass sie ins Land der Träume entglitt.

    Marie atmete tief durch und nahm die ganze Schuld auf sich. Sie wollte nicht, dass Clarisse zukünftig leiden musste, war sie woh eher ein "Freigeist" und kannte solche Regeln nicht, auch wenn sie aus der gleichen Familie stammt.


    "Vater, es tut mir aufrichtig leid, dass ich Dir Kummer bereitet habe. Es war nicht meine Absicht, solange fern zu bleiben. Und Clarisse ist wirklich kein Vorwurf zu machen - ich hätte sie besser aufklären müssen, dass Du nicht möchtest, dass wir Frauen der Familie alleine in der Stadt sind. Wir werden das zukünftig berücksichtigen, damit Du Dir keine Sorge machen musst."


    Marie schaute ihn schuldbewusst an und hoffte, er würde es damit belassen, ihnen eine größere Standpauke zu halten. Außerdem sah er wirklich mitgenommen aus. Er musste sich wirklich große Sorgen gemacht haben. Vorhin im Flur hatte sie gesehen, dass er sich mehrmals den Magen rieb und auch die Stirn. Er war nicht mehr der Jüngste...


    Sie kaute wieder auf der Unterlippe... autsch... die tat immer noch weh. Hoffentlich würde es schnell verheilen.


    Da ihr Vater nichts weiter entgegnete, stand sie auf, ging auf ihn zu und gab ihm - völlig unerwartete für ihn - einen Kuss auf die Wange: "Entschuldigung vielmals, Vater! Clarisse und ich werden jetzt in unser Gemach gehen und zu Bett. Es ist spät."


    Sie schaute zwischen ihrem Vater und Clarisse hin und her.

    Marie trat vorsichtig einen Schritt näherneben ihren Vater.


    "Vielen Dank, Herr Bedevere, für alles! Ich... es... ich werde morgen so schnell wie möglich mit Flora an Bord der 'Nebelfalke' erscheinen. Solltet Ihr noch irgendetwas benötigen - gleich was, schickt uns bitte eine Nachricht. Ich wünsche Euch eine gute Nacht!"


    Sie schenkte ihm ein Lächeln, auch wenn es ihr etwas gequält vorkam. Sie war so müde geworden. Am liebsten hätte sie sich bei Herrn Bedevere tausendmal entschuldigt; ihr war das alles sehr unangenehm, wie es gelaufen war. Vielleicht würde sie es einfach versuchen, wenn sie erstmal an Bord war.

    Marie's Kiefer war angespannt... Ihr Vater schien sich äußerlich beruhigt zu haben... doch sie hatte das Gefühl, für sie und Clarisse würde es noch eine Standpauke geben, wenn Herr Bedevere sie verlassen hatte.


    Sie seufzte leise und schaute auf ihre Finger, dann zu Clarisse.. komisch, diese sah immer wieder verstohlen zu Herrn Bedevere - mit so einem Ausdruck in den Augen... was sie wohl dachte?


    Sie wollte sie nachher fragen, warum sie weggelaufen war... oder sollte sie es lieber lassen? Marie wusste einfach nicht, was sie über ihre Cousine denken sollte... sie war nett - keine Frage, aber manchmal machte sie Dinge... wie heute - alleine in der Stadt herumgehen, weglaufen oder - wie sie es sagt - verlaufen... Sie muss ein gänzlich anderes Leben geführt haben, als das Marie hier kannte. Anscheinend hatte sie viel mehr Freiheiten gehabt bei ihren Eltern... abermals seufzte sie leise... dafür würde sie Clarisse beneiden, nicht so streng erzogen worden zu sein.


    Ihr Vater hingegen war schon immer streng gewesen seit ihre Mutter tot war. Im Kloster hatte sie ihn kaum gesehen, da er viel auf Reisen war - doch auch wenn er sie besuchte, war er immer streng und kühl zu ihr. Und seid sie zu einer Frau heranwuchs, wurde seine Fürsorgepflicht noch stärker. Ständig musste sie aufpassen, nicht alleine unterwegs zu sein und mit wem. Sie sollte sich immer tadelos benehmen und durfte nur ausgesuchten Besuch empfangen. Daher war Marie häufig alleine zuhause - mit ihrem Personal. Die einzige Abwechslung brachte die Arbeit im Kontor oder Ladengeschäft und die Einkäufe in der Stadt - oder gar, wenn sie heimlich das Waisenheim besuchte.


    Umso überraschter war sie dann auch, als er ihr einen eigenen Haushalt zugestand, nachdem er geheiratet hatte, auch wenn sie glaubte, dass ihre Stiefmutter einen großen Anteil daran hatte, um sie los zu werden - wie sich dann ja auch herausstellte.


    In diesem Moment schaute sie zu Isabell, die sie ebenfalls verstohlen ansah und wieder diesen Gesichtsausdruck hatte. Ja - diese Frau führte irgendetwas im Schilde und Marie würde gar nichts dagegen tun können.

    Marie rollte innerlich die Augen bei dem überheblichen Gebahren ihrer Stiefmutter.


    Bange schaute sie zu Herrn Bedevere und hoffte, er würde nichts von dem Überfall erzählen. Er hätte ja keine Ahnung, was er damit auslösen würde. Sie würde ab morgen von hier weg gehen und ein neues Leben beginnen, aber sie wünschte sich für Clarisse, dass sie nicht die Erfahrung machen musste, hier eingesperrt zu sein, da ihr Vater die Befürchtung hatte, ihr könnte in der Stadt je wieder etwas passieren. Ihr Vater war in diesem Punkt sehr streng... als Tochter eines reichen Kaufmannes hatte er immer Angst, dass man sie entführt oder in Verruf bringt, um ihn zu schaden. Marie durfte sich nie alleine irgendwohin bewegen und es hatte sie jahrelange Übung gekostet - selbst wenn ihr Vater nicht in Rendor weilte - sich mit Fanny alleine in der Stadt zu bewegen, ohne dass er was mitbekam. Er hatte überall seine Bekannten und Freunde, und auch Personal, die immer ein Auge auf sie hatten. Wenn sie ins Waisenhaus wollte, dann gab sie immer an, sie wolle in ihre Kirche - oder Besorgungen machen. Daher kamen viele, die ihre Hilfe in Anspruch nahmen bezüglich der Heilkunst, zu ihr und nicht anders herum. Es gab nur wenige vom Personal, die sie einweihte und vertrauen konnte. Ab morgen würde sie ihrem Gefängnis endlich entkommen... sie hoffte sehr, dass in Kaotien alles anders werden würde...

    Marie schaute ihren Vater an. Erst jetzt sah sie, dass Fanny hinter ihrem Vater an der Treppe stand und sie ängstlich und entschuldigend ansah. Prya hatte sich zu ihr gesellt und lehnte sich erschöpft an die alte Frau. Oben am Treppenabsatz stand ihre Stiefmutter, die sie ironisch anlächelte. Marie konnte sich vorstellen, dass ihr dieses Schauspiel gefiel.


    "Ich... also, Fanny, Prya und ich sind zusammen aufgebrochen zu meinem Haus, um dort noch zu packen. Dann fiel mir auf, dass ich noch einige Kleinigkeiten für die Reise benötigte," sie räusperte sich, war es ja nur die halbe Wahrheit. "


    "Also sind Prya und ich kurz zum Markt. Dann sah ich Clarisse Richtung Hafen gehen und bin ihr nach, da ich sah, sie war alleine."


    Sie schaute zu Clarisse hinüber und kaute wieder auf ihrer Unterlippe. Sie merkte, wie die Risse noch ganz frisch waren und hörte lieber damit auf, bevor sie wieder bluten würde. Denn dann müsste sie ihrem Vater erklären warum und auch von dem Überfall seines ehemaligen Arbeiters... und wenn sie könnte, würde sie diese Passage auslassen.


    "Am Kai kam uns dann die Idee, die Nebelfalke zu besuchen, wenn wir schon einmal im Hafen waren. Und Herr Bedevere war so freundlich, uns eine Führung auf seinem Schiff zu geben." Marie drehte sich um und schaute auf den Ritter, der sich bisher noch nicht bemerkbar gemacht hatte..."

    Marie sank das Herz. Ja, alle beide hatten ja Recht... sie hatte Angst, die Haustür zu öffnen. Immerhin wusste sie, wie es war, wenn ihr Vater sauer war.


    "Entschuldigung, Herrn Bedevere. Ich wollte Euch mit meinem Ansinnen nicht verärgern. Ihr habt Recht. Die Wahrheit ist immer der beste Weg," sagte sie und dachte für sich: Nur die Heilige weiß, für wen!


    Sie versuchte, den Kloß runterzuschlucken und öffnete die Haustür. Als sie eintrat, drehte sich gerade ihr Vater zu ihr um. Sie starrte ihm ins wütende Gesicht... ach herrje... sie ahnte, was kommen würde... am liebsten wünschte sie sich, dass sie nicht hier wäre, sondern in ihrem eigenen Haus. Wenn sie ihrer Cousine nicht versprochen hätte, die letzte Nacht hier zusammen mit ihr zu verbringen.