Beitrag 2

  • „Eine Mutprobe??“ Lynn sah ihr große Schwester entsetzt an und flatterte aufgeregt mit dem Flügelchen. „Aber, aber.... wenn das Gran und Poe herausbekommen!“ „Ach quatsch!“ entgegnete ihr Laya und kreuzte die Arme vor der Brust. „Du bist ein Schisser, Lynn!“
    Die kleine Fee schaute bedröppelt zu Boden. Vielleicht war sie ein Schisser, aber eigentlich hatte sie nur Angst, dass ihr Eltern von dieser, dieser Mutprobe Wind bekommen würden, und dann würde sie mächtig Ärger bekommen.
    „Was ist nun?“ Laya tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Lynn antwortete nicht.
    „Und so einen Schisser hab ich zur Schwester!“ Die größere Fee wendete sich ab, breitete ihre Flügelchen aus.
    „Doch!!! Doch, doch! Ich mach es... ich werde gehen!“ Hatte sie das wirklich gesagt? Hatte Lynn wirklich gesagt, dass sie die Mutprobe auf sich nehmen würde? Sie biss sich auf die Unterlippe. Laya hielt inne, drehte sich langsam, mit einem seltsamen Lächeln um. „Gut. Du kennst Deine Aufgabe! Und komme erst wieder, wenn Du sie erledigt hast... ansonsten....“ Ihr lächeln wurde härter „... ansonsten werde ich Gran und Poe davon erzählen!“
    Lynn erschrak, denn auf keinen Fall durften die Eltern davon erfahren, was sie vor hatte....


    Also machte sie sich auf den Weg. Sie verließ das wunderschöne, kleine Haus, welches vor Jahren von ihrem Urgroßvater erbaut wurde.
    Als sie noch ganz klein war hatte er oft die Geschichte erzählt, wie er es erbaut hatte. Viele Jahre war er auf der Jagd gewesen doch eines Tages hatte er das Wesen, was er schon sehr lange suchte, gefunden und es kam zu einem erbitterten Kampf. Beinahe hätte Urgroßvater diesen verloren, doch durch einen Trick konnte er den Purpurdrachen besiegen. Seitdem fehlte ihm allerdings ein Auge. Als er wieder zurück kehrte erbaute er das Haus und bespannte das Dach mit der Haut des Drachen.
    Lynn seufzte. Dies alles hatte er auf sich genommen, um Urgroßmutter zu imponieren und das hatte er ja auch tatsächlich geschafft.
    „Und wem imponiere ich... außer meiner Schwester?“ meinte Lynn zu sich selbst. Sie ließ die Flügel hängen, denn wohl fühle sie sich nicht bei dem, auf das sie sich eingelassen hatte.


    Mittlerweile war sie schon ein ganzes Stück vorwärts gekommen. Das Land wurde eintönig, nirgendwo waren bunte Blumen zu sehen, nirgends mehr tanzten Schmetterlinge und es schien, als würde es kälter werden. Lynn ärgerte sich. Sie hätte sich ja zumindest was warmes einpacken können, aber nein, sie musste ja sofort aufbrechen. Jetzt konnte sie nicht mehr zurück.
    Das kleine Wäldchen lag vor ihr. Es sah ganz schön unheimlich aus. Die Tannen mit ihren spitzen Nadeln wirkten bedrohlich und es war so dunkel. Lynn nahm all ihren Mut zusammen und lief weiter und folgte dem Pfad. Bald hatte sie das Ende erreicht, doch war es hier nicht merklich heller. Hier war sie noch nie gewesen. Sie schaute sich um und erschrak fürchterlich, als sie das riesige dunkle Tor entdeckte. Es wirkte so, so unfreundlich, garstig, ja schon bedrohlich. Lynn begann zu zittern.
    „Ich muss.... ich bin kein Schisser... nein.... bin ich nicht.... ich geh.... geh da jetzt durch...“ Ihr Herzchen klopfte immer lauter und schneller, je näher sie dem Tor kam. Oh, was war sie für ein Angsthase! Sie erreichte das Tor und erkannte, dass es keine Klinke hatte. Erleichtert atmete sie auf, denn so konnte sie ja nicht hindurch! Doch dann öffnete sich das mächtige Gebilde, wie von selbst. Lynn sprang verängstigt bei Seite, doch niemand war zu sehen. Sie wartete doch nichts geschah.
    „Hm......“ wieder biss sie sich auf die Unterlippe und huschte auf Zehenspitzen heran. Dann lugte sie hinaus.
    „Kind, entweder raus, oder drinnen bleiben! Oder willst Du, dass es kalt wird?“ Lynn zuckte bei den Worten zusammen, entdeckte dann aber einen kleinen grimmigen Mann, der in einer braunen Kutte draußen neben dem Tor stand. Sie zog eine Augenbraue hoch, und ging zu ihm hinüber. Laut rummste es, als sich das Tor hinter ihr schloss.
    „Aber... aber....“ Die Fee starrte zwischen dem Wächter und dem Tor hin und her.
    „Nun mein Kind, das Traumtor darf niemals zu lange offen stehen, denn sonst vermischen sich die Welten! Willst du das?“ Lynn schüttelte den Kopf. „Na dann, gute Reise!“ Der Wächter setzte sich auf einen kleinen Schemel, zog die Kapuze über das Gesicht und fing augenblicklich zu schnarchen an.
    Wieder seufzte die Fee, ließ Schultern und Flügel hängen, doch sehr schnell sah sie ein, dass Selbstmitleid nichts nutzte. Also lief sie einfach los. Wieder erreichte sie ein Wäldchen. War sie wirklich durch das Tor hindurch getreten? Es sah genauso aus, wie jenes, durch das sie eben erst gegangen war. Ja, das war es! Sie war also noch zu Hause! Frohen Schrittes eilte sie hindurch, doch als sie das Ende erreicht hatte erschrak sie. Da war... ein Wand! Eine riesige Holzwand türmte sich vor ihr auf. Dunkel war es und dreckig. Überall lagen Staubflocken herum, die so groß waren wie sie, die sich in ihren Flügeln und in ihrem Kleidchen verfingen.
    Sie schaute sich um, doch der Wald war mit einem male nicht mehr zu sehen. Lynn kämpfte sich also an der Wand endlang, bis sie einen Durchschlupf fand. Vorsichtig lugte sie hindurch. Vor ihr breitete sich eine lange Fläche aus, von der überall hohe Pfähle aufragten. Über ihr war ein riesiges Brett, was sich über die gesamte Länge der Wand, also so weit, wie sie blicken konnte, zog. Lynn schlüpfte durch das Loch hindurch, setzte sich mitten in das Loch, betrachtete das ganze und dachte nach, was sie nun tun sollte, bis ihr die Augen zufielen.
    Es rumpelte laut, als sich ruckartig vier dieser langen Pfähle wegbewegten. Die kleine Fee schreckte hoch und schaute sich ängstlich um. Überall waren riesige Schuhe und Beine zu sehen und plötzlich ertönten laute Stimmen, die sich zuriefen, grölten und rülpsten.
    „Au weia...“ dachte sich Lynn und wollte wieder durch die Wand zurück, doch als sie durch das Loch blickte entdeckte sie im halbdunkel ein Augenpaar, welches rot leuchtete. Dann hörte sie das Tippeln von nackten Pfoten und sah einen haarlosen Schwanz im Schatten verschwinden. „Eine Ratte!“ dachte sich die kleine und wieder raste ihr Herzchen wie wild. Sie konnte nicht zurück aber sie konnte auch nicht hier bleiben, denn das Untier würde sie wittern und fressen! So rannte sie los, immer hinter den riesigen Beinen der Menschen unter dem Brett, worauf sie saßen, entlang bis zur nächsten Wand. Nun war sie weit genug vom Loch entfernt, so dass das Tier sie nicht direkt finden konnte. Sie war sichtlich außer Atem. Die Stimmen der Männer wurden hier allerdings immer lauter und aggressiver.
    „Du hast mir die Kuh gestohlen!“ brüllte der eine plötzlich. „Das habe ich nicht, die hat sich doch nur wieder losgerissen, weil du sie schlecht behandelst!“ rief der andere. „Willst Du sagen ich lüge...?“ meinte der eine wieder und holte gerade Luft um noch was zu sagen, während der andere ihm ins Wort viel: „Du hast doch nicht mal so viel Ehre, dass Dir irgendwer hier glauben würde!“ Die anderen Männer lachten, doch schon krachte etwas laut gegen die Wand. Lynn zuckte zusammen und als etwas die Bretter, an denen sie sich angelehnt hatte herab lief, sprang sie auf. Sie schnupperte. Doch im gleichen Moment krachte wieder etwas und Scherben flogen auf den Boden. Eine richtige Bierkrugschlacht war nun im Gange, aber nicht nur diese sondern auch Fäuste flogen. Lynn zog sich weiter zurück. Sie zitterte vor Angst. Doch plötzlich durchdrang das Getöse eine laute, klare Männerstimme:


    Wollt ihr Bier und Wein nicht saufen
    Solls die Wand hinunter laufen?
    Wie das Wasser in dem Fluß
    Wo bleibt da der Hochgenuß?


    Mucksmäuschen Still wurde es in der Taverne.


    Kann denn Streit von Zungen brechen
    Und müsst ihr mit den Fäusten sprechen
    Wenn der Mund zum trinken läd
    Und die Faust den Bierkrug hebt?


    Zustimmendes Gemurmel wurde laut, so als ob die Worte den Geist der Männer berühren würden. Welch ein Sinneswandel!


    Also Brüder laßt das Raufen
    Denn wir woll’n gemeinsam saufen
    Wollen nun den Bierkrug heben
    Auf ein sorgenfreies Leben!


    Alle jubelten und schon klirrten die Krüge aneinander. Lynn reckte sich und streckte sich. Wer war blos dieser Mann mit dieser zauberhaften Stimme. Sie war hin und weg und nun in einem Zwiespalt, denn eigentlich hatte sie viel zu viel Angst um sich jetzt von der Wand wegzubewegen, aber auf der anderen Seite musste sie wissen, wer dieser Mann war!
    „Minon!“ hörte sie jemanden sagen. „Wie gut, dass Du mein Tavernenbarde bist, was hätte ich blos ohne dich angestellt?“ „Wahrscheinlich hättest Du dich hinter deinem Tresen verkrochen, bis sie dir den Laden kurz und klein geschlagen hätten!“ antwortete der Sänger lachend. Lynn hatte seine Füße geortet und folgte diesen nun mit ihrem Blick. Ganz in ihrer Nähe blieben sie stehen. Wieder reckte und streckte sie sich und tatsächlich erblickte sie einen Mann, der eine Laute in der Hand hielt. Wunderschön war er, mit seiner bunten Kleidung, den langen Haaren und der Mütze an der eine.... Sie schaute hin, schaute genau hin, rieb sich die Augen, weil sie glaubte sie träume. Doch tatsächlich, an seiner Mütze befand sich eine goldene Feder! Aufgeregt flatterte sie mit den Flügeln, denn genau deswegen war sie hier, wegen dieser goldenen Feder. Aber wie sollte sie nun daran kommen? Sie wartete. Die Taverne hatte sich in der Zwischenzeit noch mehr gefüllt und so hatte sie nun gar keine Chance an das gute Stück heran zu bekommen. Also begnügte sie sich damit dem Barden zu lauschen, der ein Lied nach dem anderen sang und sie mit diesem Zauber an ihren Platz fesselte.
    Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie sich endlich wieder bewegen konnte. War sie etwa eingeschlafen? Es schien fast so! Sie reckte sich und streckte sich und stand dann auf. Wo war dieser Minon nur hin? Sie schaute sich um und tatsächlich, hinten, in der anderen Ecke des Raumes sah sie seine Stiefel. Also huschte sie wieder die Wände entlang, bis sie seinen Sitzplatz erreicht hatte. Vorsichtig lugte sie hinauf. Der Barde schien zu schlafen.
    „Wunderbar!“ dachte sich Lynn und schon flog sie unter der Bank hervor und hoch zu seinem Kopf. War er nicht schön, so wie er da lag und vor sich hin schlief? Hätte er nicht ein Feerich sein können? Die Kleine seufzte. Sie flatterte an seinem Gesicht vorbei und setzte sich auf seine Mütze. Sie überlegte einen Moment, beschloss dann aber, einfach die Feder zu packen und sie aus dem Stoff zu ziehen. Gesagt, getan. Sie rührte sich nicht. Lynn zog weiter, so fest, wie sie nur konnte, doch plötzlich schlug eine Hand nach ihr und versuchte sie wie ein lästiges Insekt zu verscheuchen. Die Fee duckte sich, zog noch einmal und tatsächlich hatte sie nun die Feder, doch schon war wieder die Hand da und versuchte sie zu erwischen.
    „Ha! Ich bin schneller!“ dachte sich Lynn, doch gerade, als sie durchstarten wollte rutschte der bunte Ärmel, der den Arm der Hand verdeckt hatte, hinunter und ein Schellenband wurde sichtbar, welches nun klingelte. Die kleine Fee erstarrte in ihrer Bewegung, wurde von zwei Fingern erwischt und durch den Raum geschleudert. Unsanft landete sie in einem Bierkrug, der halbvoll stehen geblieben war.
    „Was für ein Fluch! Ich hab ihn total vergessen!“ dachte sich die kleine, als sie immer tiefer sank während sie sich an die Feder klammerte und ihr das Bier in Mund und Nase und dann in die Lungen lief. Ihr wurde schwarz vor Augen.


    „Lynn? Kleines??? Lynn?“ War das Poes Stimme? „Kleines, komm zu Dir, du bist wieder zu Hause!“ Sie schlug die Augen auf und sah das purpur-schimmernde Dach aus Drachenhaut. Sie war wieder zurück!
    „Poe? Bin ich tot?“ fragte sie mit zitteriger Stimme. „Nein, Du hast nur sehr schlecht geträumt!“ antwortete ihr Vater. „Dann ist ja gut!“ sagte sie, und schlief wieder ein.


    Drei Tage später hatte sie sich von ihrem kleinen Abenteuer so weit erholt, dass sie aufstehen konnte. Sofort wurde der Familienrat eingerufen.


    Ihre Großeltern und Eltern waren anwesend und auch Laya, ihre Schwester.
    „Es hat einen höchst schlimmen Verrat in unserer Familie gegeben!“ tönte Großvaters Stimme.
    „Lynn, tritt vor!“
    Aber was hatte sie nur getan, sie hatte doch niemanden verraten?
    „Lynn, wir haben dich die letzten Tage sehr genau beobachtet und deine Träume analysiert. Außerdem hast du ihm Schlaf gesprochen. Deshalb frage ich dich, hat dich Laya dazu animiert etwas zu tun, was von jeher verboten ist, nämlich durch das Traumtor zu treten?“
    Lynn schaute zu ihrer Schwester, dann zwischen den Eltern und Großeltern hin und her wieder zu ihrer Schwester. Diese deutete ihr mit einem bösen Blick, dass Lynn ja nichts sagen sollte.
    „Lynn?“ wieder ertönte Großvaters Stimme. Sie schwieg. Noch einmal fuchtelte Laya rum, doch diesmal bemerkte der Großvater diese Geste und schaute sie an. „Willst Du uns etwas sagen?“ „Ich?“ „Ja, Du!“ „Nein, ich wüßte nicht was!“ Eine Träne kullerte währenddessen über Lynns Gesichtchen. Sie wollte doch niemanden was schlechtes antun, konnte sie deswegen ihre Schwester verraten? Großmutter stand auf, ging zu einem Schränkchen, öffnete diesen und holte dort eine goldene Feder heraus.
    „Das ist meine!“ entfuhr es Laya, die aufsprang, um Gran die Feder zu entreißen.
    „Aber, aber die hab ich doch geholt.... die ist doch von Minon!“ antwortete Lynn und schluchzte leise. „Das ist meine, Du hast sie für mich geholt, hast Du vergessen, was wir ausgemacht haben?“ „Ich sollte sie als Mutprobe holen, aber du hast nie gesagt, dass sie für dich ist!“ „ES IST MEINE!“ Laya stampfte wütend mit dem Fuß auf.
    „GENUG!“ donnerte Großvaters Stimme. „Damit ist bewiesen, dass Du, Laya, Schuld an Lynns Unglück bist. Dass Du eine solche Unruhe stiftest und Familienmitglieder in Gefahr bringst um Deine eigener Habsucht zu befriedigen können wir nicht tolerieren!“
    Poe packte sie unsanft und zerrte sie an den Flügen hinaus. Man hörte sie noch eine Weile schreien und fluchen, doch nachdem der Bannkreis geschlossen war wurde es still und selbst die goldene Feder fiel lautlos zu Boden, doch Minon der Barde erwachte aus seinem Rausch und wunderte sich, denn solch seltsames Zeugs hatte er noch nie geträumt.