Das Haus von Alanis am Oberen Stichweg

  • Tage sind seit Alanis Rückkehr nach Renascân vergangen. Sie hat Holz gehackt, die Vorräte für den Winter aufgestockt, aufgeräumt und geputzt. Die neuen Abschriften, die sie von Alexandres Schiff mitgebracht hat, werden katalogisiert und in die Regale eingeordnet. Vor allem aber hat sie gegrübelt und gebetet, doch die Antworten, die sie für sich erhofft hat, hat sie nicht erhalten. Ihre Knie schmerzen vom vielen Knien vor ihrem kleinen Altar, mehr noch als ihr Kopf, in dem täglich neue Erinnerungen auftauchen, die sie lange verschüttet geglaubt hat. Mit den Erinnerungen waren Gefühle gekommen, die sie einst schon durchlebt hatte, Freude, Trauer, Zorn. Sie erinnert sich an Begebenheiten aus ihrer Kindheit, an ihren Großvater und seine geduldigen Versuche, ihr etwas über das Leben beizubringen. An ihre Mutter, liebevoll und stets besorgt um ihr einziges Kind, aber nicht fähig, den Grausamkeiten ihres Ehemannes zu entgegen. An ihre erste Begegnung mit El Gar in den Nebeln in Dargaras und eine Nacht in einem Winterwald, in der sie begriffen hatte, dass sie den großen Mann wirklich gern hatte und nicht nur mit ihm gegangen war, weil er sie versorgen konnte. Sie erinnert sich an Engel und Dämonen, an dunkle Keller und darin verborgene Ungeheuer. An Freunde, die in ihrem Blut liegen und manche, für die dann jede Hilfe zu spät kam.



    Als sie eines Nachmittags in ihrer Küche steht, stellt sie fest, dass sie Damorg nun schon über eine Woche nicht gesehen hat. Sie vermißt ihn. Ohne ihn ist ihr Haus leer, ihr Bett leer - doch was ist mit ihrem Herz?


    Sie setzt sich an den Küchentisch und beginnt, mit dem Finger Zuckerkrümel aufzunehmen, die auf der Tischplatte liegen. Es ist viel geschehen und nun, da sie die Zeit hat, kann sie ihre Gedanken sammeln. Er hatte sie in der Öffentlichkeit verleumdet. Beleidigt. Wäre er ein normaler Mann, einfach einer, dessen Zuneigung sie genießen und ihn dann verlassen konnte, wie sie es schon oft getan hatte, wäre das alles kein Problem für sie. Aber so ist die Erinnerung an das letzte Jahr ein steter Druck in ihrer Brust. Sie kann nicht leugnen, dass das Schöne das Schlechte überlagern, aber nicht ungeschehen machen kann.


    Und über allem lagert die eine Frage - sie hatte eines Haltes bedurft, damals, als sie Damorg kennengelernt hat. Hat sie sich vielleicht nur deswegen in ihn verliebt? Um sich selbst zu retten? Und ihn im Endeffekt nur benutzt, um an ihm zu genesen? Andererseits war jegliche Genesung so weit entfernt -.


    Entschlossen steht sie auf und holt ihr Schreibzeug. Im Schein des Herdfeuers schreibt sie zwei Briefe, je einen an jeden ihrer Lehrmeister, deren Fehlen ihr an Tagen wie diesen doppelt bewußt wird. Als sie fertig ist, zieht sie sich warm an, packt die Briefe in ihre Umhängetasche und tritt aus dem Haus. Verwundert stellt sie fest, dass sie das Haus zwei Tage nicht verlassen hat und Schnee gefallen ist. Bis zu den Knöcheln steht sie in der weißen Pracht. Und es schneit weiter.


    Fröstelnd macht sie sich auf den Weg zum Hafen, um die Briefe aufzugeben. Dann macht sie sich auf den Weg in die Stadt, den Hang hinauf in die Oberstadt und nach kurzem Zögern schlendert sie, halb rutschend, halb gehend, in Richtung des Tempels Kapals.