Das Wachgebäude der Unterstadt (2)

  • "Guten Tag, Korporal", begrüßte Johanna den Mann freundlich, aber ihr war noch immer anzumerken, dass sie die Situation bedrückte. Sie folgte dem Mann und ließ sich ihm gegenüber am Tisch nieder. Tief durchatmend, versuchte sie, ein wages Gefühl in Worte zu fassen:


    "Ich habe den vermissten Gardisten vor kurzem noch gesehen." Sie nannte ihm das Datum. "Er kam Abends in den Tempel und betete an jedem der Schreine. Für den Laya-Schrein kann ich sagen, dass er einen kleinen Stoffbeutel dort ließ. Und er hat einige Beutel beim Opferstock gelassen. Dann ist er wieder gegangen."

  • Der Korporal nickte


    "Hmmmm...an jedem der Schreine. Hmmm...könnt ihr euch erinnern, wann genau das war? Hat er etwas gesagt? Und ist euch irgendetwas aufgefallen? Auch kleine Hinweise können von Belang sein, auch wenn man's selbst gar nicht für so wichtig hält."

  • Johanna legte den Kopf schräg und überlegte.


    "Ich bin an diesem Abend kurz nach der achten Stunde in den Tempel gekommen und habe gebetet. Er kam ein wenig später. Bis auf einen freundlichen Gruß hat er nichts gesagt." Sie richtete den Blick auf die Tischplatte und seufzte leise. "Natürlich ist er mir aufgefallen. Ich kannte ihn vorher nicht, aber es war etwas an ihm -." Sie unterbrach sich und ihr Blick ging für einen Moment in's Leere. "Ich hatte ein ungutes Gefühl, als er ging."

  • Johanna faltete die Hände auf der Tischplatte und sah den Gardisten ruhig und gefasst an.


    "Wie ich sagte, ich kannte den Mann nicht. Doch irgendetwas an ihm brachte mich dazu, die Herrin Laya darum zu bitten, ihm ein wenig Freude zu senden. Er wirkte - unglaublich verlassen."

  • Johanna nickte. In ihrem offenen Gesicht konnte man erkennen, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte.


    "Nach den Begegnung mit ihm habe ich mich über ihn erkundigt und gehört, dass er auf den Friedensinseln einen Unfall gehabt hat - und dass er seitdem wohl nicht mehr ohne Krücken laufen konnte."

  • "Genau so ist es. Die Heiler haben wirklich alles unternommen, aber es wollte und wollte nicht besser werden. An normalen Dienst war nicht mehr zu denken, auch wenn er natürlich weiter Gardist war. Einen Kamerad lässt man nicht hängen. Aber helfen konnten wir ihm auch nicht."


    Er überlegte eine Weile


    "Glaubt ihr, es wäre möglich, in die Stoffbeutel zu sehen, die er zurückgelassen hat, ohne den Zorn der Götter zu riskieren? Ihr seid Priesterin, ich bin nur Soldat. Aber wir müssen herausbekommen, was es mit dem Verschwinden von Konrad auf sich hat. Ich hab's ja gesagt, auch kleine Hinweise können hilfreich sein."

  • Johanna überlegte einen Moment lang.


    "Die Geschenke der Menschen an die Herrin Laya sind oftmals eine sehr - intime Sache." Man sah ihr an, dass ihr bei dem Vorschlag nicht ganz wohl war. "Aber ich denke ich werde es mir ansehen. Und dann von der Herrin Verzeihung erbitten." Ihre grauen Augen richten sich auf den Korporal. "Ihr werdet verstehen, dass das eine Bitte ist, die ich nur schweren Herzen erfülle und dass ich darauf bestehen muss, dass diese Sache diskret behandelt wird."

  • "Natürlich. Schließlich sind das Nachforschungen, damit gehen wir nicht hausieren. Ich wäre euch dankbar, wenn ihr mir eine Nachricht zukommen lassen würdet, womit wir es zu tun haben. Gardisten verschwinden nicht einfach. Wir müssen herausfinden, was mit ihm ist."

  • Kurz darauf saß Johanna wieder dem Korporal Riedel Solera in der Bereitschaftsstube gegenüber


    "Und, Ehrwürden? Wissen wir mehr?"

    Thankmar Rhytanian
    Botschafter Magoniens zu Montralur

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  • Johanna maß den Korporal mit einem ruhigen Blick.


    "In dem Beutel befand sich eine Gabe für die Herrin und ein kurzer Brief mit einem Gebet, in dem er ausdrückt, dass sein Werk vollbracht sei und er sich in die Hände der Götter begibt."


    Sie sah für einen Moment sehr unglücklich aus, denn die Wahl der Worte wies ihrer Erfahrung nach in eine bestimmte Richtung, dann fing sie sich wieder und lächelte schwach.

    "Da er bei allen anderen Schreinen auch war, vermute ich fast, dass er dort ähnliche Geschenke hinterlassen hat. Leider war kein Priester der anderen vier zugegen, den ich hätte fragen können."

  • "Werk vollbracht? Welches Werk denn? Er war bis auf weiteres vom Dienst befreit, darum hatte er selbst gebeten. Von einem Werk weiß ich nichts. Ich wüsste auch nicht, woran er gearbeitet haben könnte. Der gute Mann konnte sich ja nur noch mit Mühe von der Stelle bewegen. Verdammte Mission nach Lodur..."


    Der Korporal starrte eine Weile auf die Tischplatte, dann wandte er sich wieder an Johanna


    "Andere Geschenke? An allen Schreinen?"

  • "Ich weiß nicht", gab Johanna sanft zurück. Sie teilte die Verwirrung des Mannes über das Vorgehen seines Kameraden. "Wie gesagt, ich habe nicht in den anderen Nischen nachgesehen, das steht mir nicht an. Aber der Gardist wirkte an diesem Abend so - methodisch, dass ich es mir vorstellen kann."

  • Der Korporal schwieg eine Weile.


    "Wie seht ihr das, Ehrwürden? Ich würde gerne eure ehrliche Meinung hören, ohne Umschweife. Womit haben wir es hier zu tun?"

    Thankmar Rhytanian
    Botschafter Magoniens zu Montralur

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  • Johanna blickte hinunter, auf ihre im Schoß gefalteten Hände. Dann sah sie wieder auf und dem Gardisten in die Augen.


    "Der gesamte Text lautete 'Hienieden ist mein Werk vollbracht, in eure Hände begeb' ich mich, ihr Götter, zwei Dinge ich erfleh', schenket mir Gnade, und schützet die meinen.'"


    Johanna hatte ein wenig gezögert, dem Mann das ganze Gebet zu offenbaren, denn es war ein sehr persönlicher Text gewesen. Doch sie hatte erkannt, dass in der Formulierung eigentlich schon die ganze Antwort steckte.


    "Hienieden", wiederholte sie dann leise. "Für mich klingt das, als hätte er sich umgebracht."

  • Der Korporal nickte, aber sagte wieder eine Zeit lang nichts.


    "Ich danke euch für eure Hilfe, Ehrwürden. Wir sollten für unseren Kameraden Konrad beten, ganz gleich, was dahinter stecken mag."


    Er stand auf und gab Johanna die Hand