Das Haus von Alanis am Oberen Stichweg (3)

  • Die Schatten wanderten über den Boden und einige Zeit verging. Ashaba rieb sich müde über die Augen und stand dann auf. Sorgfältig schob sie den Stuhl an den Tisch, warf dem Kästchen noch einen Blick zu und legte sich dann den Mantel um die Schultern.
    Ohne noch einmal zurück zu blicken ging sie in Richtung der Tür.

    Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.
    Homunkulus (~835 - 902)

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  • Mehr ein Kribbeln in ihrem Nacken als alles andere. Ashaba drehte sich um und starrte die Treppe hinauf. Langsam ließ sie den Mantel wieder auf den Boden gleiten und zog ihren Dolch aus der Scheide. Vorsichtig darauf bedacht keinen Laut zu verursachen bewegte sie sich die Treppe hinauf um nach der Ursache des Lichtes zu sehen.


    Als eine Stufe unter ihrem Gewicht laut hörbar knarrte, hielt sie mit klopfendem Herzen inne und lauschte.

  • Dass konnte keine Kerze zur Ursache haben.


    "Alanis?" rief sie leise und lauschte. Dann noch einmal etwas lauter. "Wer ist da?"


    Wenn jemand da war, hatte er sie sicher bereits vorher bemerkt und war nicht getürmt. Also entweder war es jemand, der hier hin gehörte oder aber es war etwas anderes. Die letzten Stufen ging sie nun ohne Schleichen hinauf, den Dolch locker in der Hand.

  • Die Glimmen stammte ganz eindeutig von dem Altar, der an der rechten Seite des Raumes errichtet war. Das letzte Mal, als Ashaba in diesem Raum gewesen war - ein blutiger Handabdruck auf dem Teppich erinnerte an die Episode mit Tear'asel -, war dieser Altar ein Provisorium gewesen. Ein einfacher Tisch, eine Decke darüber, das aufgemalte Elementezeichen und die jeweiligen Gegenstände, die die einzelnen Elemente verkörperten.


    Nun war das Provisorium verschwunden und hatte etwas Neuem Platz gemacht. Auf einem Sockel aus mit Stoff verkleidetem Holz stand auf Ashabas Hüfthöhe eine sehr große, graue Schale. Nicht sonderlich tief, so dass einem nähertretenden Betrachter schnell der Blick in's Innere offenbart werden würde.


    Ein Tropfen war zu hören und der Eindruck der Feuchtigkeit in diesem Raum verstärkte sich, bis die erdige Note vollends darauf verschwunden war.

  • Ihre Nackenhaare stellten sich auf als sie das Zimmer betrat. Die Luft schien... aufgeladen. Feuchtigkeit legte sich wie ein kühler Schleier auf ihre Haut. Eine plötzliche Angst umfing ihren Brustkorb und ließ sie schneller atmen. Meanor holen? Sie hatte ihn bereits seit Monaten nicht mehr gesehen. Ob er überhaupt in Renascân war?
    Die Spitze der Klinge in ihrer Hand zitterte unmerklich. Keine weitere Vision! Alles nur keine weitere Vision!
    Für einen winzigen Augenblick schloß sie die Augen. Jetzt nicht mehr zurück. Sie sammelte sich und trat näher um in die Schale zu blicken.

  • Ein leichter, schmeichelnder Wind strich durch den Raum und zog an den weißen Tüchern, die über die meistens Möbel gelegt worden waren. Dann war es plötzlich wieder windstill. Kein Fenster, keine Tür war geöffnet worden. Die plötzliche Ruhe im Zimmer war beinahe greifbar.


    In der Schale wuchsen Pflanzen, ein Gewirr von kleinen Blättern, Stielen und Blüten, die im schwachen Licht, das von der einen Seite der Schale ausging, grün und gesund wirkten. Das Elementekreuz, das Alanis normalerweise als Amulett um den Hals trug, war in der Schale nur erkennbar, wenn man es schon einmal gesehen hatte. Hier floss Wasser durch die Schale, erschien auf dem Grün der Pflanzen, lief über Blätter und kleine, weiße Blüten, versiegte wieder im Durcheinander des Lebens. Dort, dem winzigen Fluss gegenüber, brannte ein Licht, das sich schwerlich fassen ließ. Wärme ging davon aus, doch benötigte es keinen Docht. Es war einfach dort, wie das Wasser. Und der Wind, der an einer anderen Stelle das Grün, das hier ätherisch schien, fast durchsichtig, stetig zauste. Und der Stein, der sich aus den Pflanzen erhob, aus ihnen herauszuwachsen schien und doch möglicherweise in sie hineinwuchs.

  • Luft, Wasser, Erde. War das Licht das Feuer oder die Magie? Oder möglicherweise keins von beidem? Mit wachem Verstand versuchte sie das Bild rasch zu erfassen, denn fast glaubte sie, dass es jeden Augenblick wieder verblassen würde.


    Für einen Moment hatte sie den Drang, die weißen Blüten zu berühren, getraute sich aber doch nicht. Ihre Hand verharrte mitten in der Bewegung in der Luft. Die andere schob mit einer unbewussten Bewegung die Klinge wieder in die Scheide.


    Sie starrte auf die Schale und verzweifelte schier daran, dass sie sich das Schauspiel nicht erklären konnte. 'Ich hätte ihr öfter zuhören sollen.' dachte sie bitter. 'Vielleicht wüsste ich dann, was ich davon halten soll.'


    "Was willst du mir bloß sagen?" fragte sie die Schale kaum hörbar.

  • Natürlich hatten Schalen an sich, selbst jene, die einen Altar darstellten, nicht den Drang zu sprechen. Doch etwas geschah. In der Mitte des Konstruktes, das in seiner Beschaffenheit an sich schon ein Wunder war, weil es sich offenkundig ganz ohne Pflege selbst erhielt, sproß eine kleine Ranke hervor. Nicht sehr schnell, aber merklich schob sie sich Ashabas Hand entgegen.

  • "Sche iße..." sagte Ashaba und schluckte trocken.


    "Ich sag dirs..." setzte sie mit rauher Stimme hinzu. Was sie meinte waren alle möglichen Arten von Drohungen, falls die Ranke irgendetwas gefährliches tun sollte. Dann wurde ihr jedoch bewusst, dass sie gerade mit einer Pflanze sprach und hielt den Mund. 'Ich werde irre.' dachte sie noch leicht belustigt.


    Vorsichtig berührte sie die Ranke mit der Fingerspitze als wäre sie eine Hand, die sich ihr zum sanften Gruß entgegen reckte.

  • Die Welt hält inne. Ganz anders als die anderen Male davor umfängt sie die Vision diesmal sanft und freundlich. Ohne dass sie sich wehren könnte oder auch nur wollte, versinkt sie in das, was sich ihr anbietet.
    Die Zeit verrinnt unbemerkt und als es sich ihr wieder entzieht, lässt sie es nur widerwillig gehen. Als sie die Augen wieder öffnet, sind ihre Wangen nass von Tränen. Etwas desorientiert sieht sie sich im Raum um und sucht nach dem Anker, der sie wieder vollends in die Wirklichkeit zurück holt.

  • Die Schale auf ihrem Podest lag vor Ashaba, ruhig, unberührt. Das Licht hatte sich wieder ein wenig abgedimmt, doch es war immer noch dort, ebenso wie all die anderen kleinen Wunder, die die einzelnen Elemente symbolisierten. Die Ranke hatte sich irgendwann zurückgezogen, ohne dass Ashaba es bemerkt hatte. Nichts an diesem Altar wirkte so, als habe dieses lebendige Gespinst gerade das hervorgebracht, was es getan hatte.


    Es war ruhig im Haus selbst und nur der Wind rüttelte an den Dachschindeln und den Bäumen des nahen Waldes. Der Herbst war gekommen und die Dämmerung schien anzubrechen. Vor der Tür erklang derweil das untrügliche Geräusch zweier Katzen, die sich miteinander anlegen.

  • Benommen schüttelte sie den Kopf um die letzten Fetzen der Abwesenheit loszuwerden. Sie starrte die Schale an, was nicht gerade dazu beitrug, wieder klar zu werden. Die Frage, was das eben gerade gewesen war, stellte sich wohl nicht. Sie wusste nicht genau von wem dieser Wink gesandt worden war und wollte es auch nicht wirklich wissen, aber was er bedeutete, das wusste sie wohl.

  • Tage später war der Winter gekommen und Raureif lag auf der Wiese und dem Dach von Alanis Haus. Zwar schien die Sonne, doch die Bäume des nahem Waldes hatten die nur noch zart wärmenden Strahlen nicht vollends zu der still daliegenden Behausung durchgelassen.


    Die Priesterin kam den Stichweg hin auf und blieb für einen Moment vor dem Haus stehen. Sie betrachtete es ruhig und ohne jegliche Regung, dann hoben sich ihre Schultern in einem stummen Seufzen und sie ging über die zwei Stufen, die sie aus dickeren Steinen in das Erdreich geformt hatte, über den schmalen Pfad zur Tür.


    Der Riegel ließ sich wegen der Kälte schwer öffnen, das Holz war aufgequollen und ein wenig rissig. Schließlich jedoch stand die Priesterin in ihrer leeren, dunklen Küche, in der es so kalt war, dass sie auch hier ihren Atem sehen konnte.


    Die Tasche mit den Einkäufen legte sie auf dem Küchentisch ab, dann schloß sie die Tür und begann, mit den zwei schmalen Holzscheiten, die noch neben dem Kamin lagen, ein Feuer zu entzünden.


    Als sie bemerkte, dass das nicht reichen würde, wanderte kurzerhand das Kästchen vom Tisch mit den Briefen in die Flammen.

  • Nachdem Tarant gegangen war, packte Ashaba in aller Eile einige Sachen zusammen: Ein Stück Käse, eine in Wachspapier gewickelte Kugel Schmalz, einen Laib Brot aus dem Lager und eine Dauerwurst. Nichts, was den Gourmet erfreuen würde, aber genug, um wieder etwas im Haus zu haben. Alles warf sie alles zusammen in einen Beutel, nahm den Mantel und griff nach der Türklinke.


    Sie hielt inne und in ihr stritt die Freude über Alanis' Rückkehr mit den Bildern, die sie noch immer nicht los ließen. Sie würde sowieso keine Ruhe haben, wenn sie nicht vorbei schaute. Also eilte sie kurz darauf den Stichweg entlang und klopfte an die Tür.

  • Alanis hatte sich indes daran gemacht, ein Regal aus dem Keller, das sie eh nie gebraucht hatte, zu Kleinholz zu verwandeln und die Reste neben dem Herdfeuer aufzustapeln.


    Als es klopfte, fuhr sie zusammen und starrte die geschlossene Pforte für einen Moment an, als wäre sie ihr persönlicher Feind. Dann straffte sich ihre Gestalt und sie ging langsam durch den Raum, um zu öffnen.


    Als sie erkannte, wer da auf der Schwelle stand, mußte sie lächeln.


    "Guten Morgen", sagte sie mit ehrlicher Wiedersehensfreude in der Stimme.

  • "Guten Morgen."


    Ashaba blieb unbeweglich auf der Türschwelle stehen und machte keine Anstalten Alanis zu umarmen. Sie musste ein wenig wie Moclin wirken, der hin und her gerissen zwischen verführerisch duftendem Essen und möglicher Gefahr nicht wusste, ob er vor oder zurück wollte.
    Die Zweifel dauerten nur einen unmerklichen Moment an, dann obsiegte die Wiedersehensfreude und sie machte einen Schritt auf Alanis zu um sie in die Arme zu schließen.

  • Alanis war über diese Regung zu verblüfft, dass sie beinahe einen Schritt zurückgewichen wäre, doch als sich die Arme der Soldatin um die schlossen, besann sie sich anders und erwiderte die Umarmung herzlich.


    Für einen Moment gluckste ein Lachen in ihrer Kehle - so eine große Frau hatte sie noch niemals umarmt - , aber dann beherrschte sie sich wieder.


    "Tja, da bin ich wieder", sagte sie, ein wenig hilflos, nachdem sie sich dann doch irgendwann wieder los gemacht hatte. "Entschuldige, falls Du Dir Sorgen gemacht hast."