Der Sitz des Hauses Saarweiler in Renascân

  • Es dauerte nich sonderlich lange, da kamen auch Godwine und Sir Evan bei dem Haus der Saarweiler an. Elleonore ließ die beiden ein und schon bald sprachen die drei Herren mit Veit und Edouard. Elleonore ging zurück zu Mara und Hanna half in der Küche.


    Nach einiger Zeit verließ der Besuch das Haus wieder und kehrte in die eigene Unterkunft zurück.


    Die Zeit geht ins Land. Die Tage werden wieder kürzer. Noch ist es zwar warm, aber Mensch und Tier spüren, dass die sengende Hitze des Sommers vorbei ist und der Herbst bereits naht.

  • An einem goldenen Morgen in diesem Herbst klopfte Schwester Johanna an der Haustür der von Saarweilers. Sie trug ein rostrotes Leinenkleid, das ihr gut zu Gesicht stand, und wurde von zwei kleinen Mädchen begleitet. Die eine, ein hübsches, blondes Kind, stand stumm neben der Priesterin, eine Hand in Johannes Rock verkrampft, wohl hoffend, dass das unbemerkt blieb. Sie starrte auf den Boden. Das andere Mädchen, dessen dunkles Haar ihr in einem breiten Zopf auf den Rücken herabfiel, wirkte selbstbewusster und sah sich das Haus aufmerksam an. Beide Mädchen trugen ihre besten Kleider - obwohl man nicht behaupten konnte, dass die Kinder des Waisenhauses je durch besonders schadhafte oder schlechte Kleidung aufgefallen wären.

  • Kurze Zeit später wurde die Tür geöffnet und ein schmales Gesicht erschien in der Tür. Ein Mädchen um die 15 schaute das Gespann fragend an.


    "Die Fünfe zum Gruße."


    Als sie Johanna erkannte, senkte sie den Blick und knickste anmutig.


    "Ich werde Euch sofort ankündigen."


    Mit Fragen hielt sie sich scheinbar nicht auf. Sie öffnete die Tür ganz und ließ die drei ein.
    Von der Eingangstür trat man durch einen kurzen Gang in einen großen Raum ein, der von einer Tafel beherrscht war. An der Wand neben dem Kamin hing das Wappen des Hausherrn. Die Vorhänge waren zu diesem Zeitpunkt zurück gezogen, so dass Licht durch die Fenster fiel und die Halle erhellte. Ein langbeiniger Jagdhund, der eben noch auf einem Fell vor dem Kamin gelegen hatte, erhob sich träge, streckte sich gähnend und kam heran um mit sachtem Wedeln an den dreien zu schnuppern.

  • Johanna dankte dem Hausmädchen freundlich und trat mit ihrem Schützlingen ein. Ein rascher Blick streifte die Halle, das Wappen und das sich nährende Tier.


    Das blonde Mädchen zog sich noch weiter hinter Johannas Röcken zurück, als sie den Hund bemerkte. Johanna blickte sie mit einem Lächeln an und legte eine Hand auf ihre Schulter, um sie davon abzuhalten, zurückzuweichen und damit den Spieltrieb des großen Tiers noch weiter anzuheizen.


    "Luisa, Du musst keine Angst vor Hunden haben, wenn sie mit den Schwanz wedeln. Die möchten nur an Dir riechen, um zu wissen, wer Du bist."


    Girte hingegen, das dunkle Mädchen, kicherte leise, aber nicht missgünstig, sondern sie schien durchaus Freude an dem Tier zu haben. Sie wartete jedoch, bis Johanna dem Hund ihre Hand zwecks Witterung entgegengestreckt hatte, bevor sie es der Priesterin nachtat.

  • Das Hund schnupperte an der Hand, die ihm hingereckt wurde und leckte kurz mit der rauhen Zunge darüber. Auch Girte streckte er witternd die Nase entgegen. Als er Luisas Rocksaum untersucht hatte, tappte er wieder in Richtung seines Fells um sich dort mit einem Seufzen, das nur Hunde von sich geben können, wieder einzurollen.
    Die Schnauze legte das Tier auf die Vorderpfoten und sah weiterhin mit halb geschlossenen Augen zu den Neuankömmlingen hinüber.

  • Nach einigen Minuten kam das Mädchen wieder die Treppe hinunter.


    "Die Hohe Herrin wird gleich da sein."
    Als sie bemerkte, dass sie den Gästen keine Sitzgelegenheiten angeboten hatte schaute sie schuldbewusst.


    "Entschuldigt bitte meine Unaufmerksamkeit, Schwester Johanna. Wenn Ihr möchtet, könnt Ihr natürlich gerne Platz nehmen."


    Sie wies auf die Tafel und die Stühle. Dann verschwand sie durch eine Tür und kam bald darauf mit zwei Krügen und Bechern zurück. Es folgte noch eine Platte mit frischem Obst, Käsestückchen und kleinen Keksen. Sie sorgte dafür, dass jeder einen der Becher bekam und bot großen wie kleinen Gästen Wasser, Apfelsaft oder eine Mischung aus beidem an.


    Nach einigen Augenblicken gesellte sich auch Mara-Katharina dazu.


    "Seid willkommen in diesem Haus, Schwester Johanna."


    sagte sie mit einem warmen Lächeln und wandte sich dann an die Mädchen.


    "Und ihr auch."

  • Johanna schenkte dem Hausmädchen ein besänftigendes Schmunzeln.


    "Wir nehmen gerne Platz, vielen Dank. Kein Grund, sich zu entschuldigen."


    Manchmal fragte sich Johanna ernsthaft, wie es dazu kommen konnte, dass sie mancher Magonier behandelte wie eine Dame und so mancher eher wie ein Möbel.


    "Kinder, setzt Euch doch." Erst als ihre Schützlinge sich gesetzt hatten, nahm auch Johanna Platz, den Kopf der Tafel jedoch sorgsam aussparend.


    Louise bat das Hausmädchen mit sanfter Stimme um ein wenig Apfelsaft, sie schien ihre Schüchternheit für einen Moment überwunden zu haben. Dennoch schaute sie hin und wieder beunruhigt zu dem schlummernden Hund.


    Girte nahm ebenfalls Apfelsaft, Johanna Wasser. Als Girte die Hand nach dem Essen ausstreckte, sah die Priesterin sie einen Moment lang an, dann wandte Girte sich an das Hausmädchen.


    "Vielen Dank", sagte sie artig, aber in ihren Augen tanzte der Schalk, was auch Johanna nicht verborgen blieb.

  • Mara-Katharina setzte sich zu den drei Gästen, ließ aber auch den Kopf der Tafel aus.

    "Das ist also Eure Wahl, Schwester."


    sagte sie und betrachtete die zwei Mädchen eins nach dem anderen mit einem sanften Lächeln. Bewusst achtete sie auf die Reaktion der beiden, als sie so sehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen.

  • Nachdem Johanna sich bei Maras Eintreten erhoben und die hohe Damen begrüßt hatte - ebenso wie die Mädchen, die dafür erstaunlicherweise keinerlei Aufforderung bedurfen -, setzte sie sich wieder.


    "Ja, das sind die beiden Mädchen, an die ich von Anfang an gedacht hatte."


    Sie wies auf das erste Mädchen, das sich unwohl zu fühlen schien und ihre Finger auf dem Schoß verknotet hatte. Dennoch schaffte sie es, die beiden Erwachsenen anzusehen und scheues Interesse sprach aus ihren blauen Augen.


    "Das ist Luisa, sie ist zehn Jahre alt. Sie schreibt und malt weit besser, als ich es in ihrem Alter konnte, liest sehr gern. Außerdem mag sie Honigbonbons."


    Schüchtern nickte Luisa, die bei Johannas Kompliment errötet war. Dann wandte sich die Priesterin dem zweiten Mädchen zu, das während Johanna sprach, der ein Stück kleineren Luisa kurz beruhigend die Hand auf den Arm gelegt hatte.


    "Das ist Girte, sie ist elf Jahre alt. Sie arbeitet gerne mit Papier und ist handwerklich sehr geschickt. Auch sie liest ebenfalls sehr gerne und kümmert sich gerne um andere."


    Girte sah die hohe Dame prüfend an, so als wolle sie erfahren, was für ein Mensch diese war. Dann nickte sie mit einem Lächeln. Dieses Mädchen wirkte deutlich reifer als das andere.

  • Sachte nickend hörte Mara-Katharina zu.


    "Es ist schön, euch kennenzulernen. Wisst ihr denn, warum ihr hier seid?"


    Im Grunde zweifelte sie nicht daran, dass Schwester Johanna es ihnen gesagt hatte. Aber es interessierte sie, wie es aus dem Mund der Kinder klingen mochte. Eine Wahrheit wirkte gleich ganz anders, wenn man andere Worte wählte um sie auszusprechen.

  • Die beiden Mädchen sahen sich an. Dann gab Luisa Girte einen kleinen Stubs mit dem Fuß unter dem Tisch. Das ältere Mädchen sagte dann langsam, so als würde sie jedes Wort, das sie sagte, genau überprüfen:


    "Schwester Johanna hat uns erzählt, dass Ihr jemanden sucht, der in Eurer Gemeinschaft leben möchte und sich für die Dinge interessiert, die der Herrin Akestera gefällig sind."


    Auch Luisa gab sich einen Ruck und setzte hinzu:


    "Wir wissen, dass das eine wichtige Entscheidung ist, für eine von uns und auch für Euch. Wichtig für unser ganzes Leben, also haben wir viel darüber nachgedacht und mit Schwester Johanna gesprochen."

  • Mara-Katharina nickte, ließ aber nicht erkennen, was sie über die Aussagen der Kinder dachte.


    "Der Dienst an den Göttern verlangt viel Hingabe von uns, aber er gibt uns auch unzählige Dinge zurück. Die Herrin Akestera sagt uns, dass wir Zeit unseres Lebens wissbegierig bleiben und fragen sollen. Dafür gibt sie uns Erkenntnisse."


    Wie gerufen kam das Mädchen mit einem neuen Tablett herbei und stellte vier Becher auf den Tisch, in denen eine dunkelbraune Flüssigkeit träge dampfte. Mara-Katharina selbst reichte jedem einen Becher davon.
    Sie hob ihren, sah lächelnd in die Runde.


    "Auf die Fünfe."


    sagte sie und nahm einen kleinen Schluck.

  • "Auf die Fünfe", gab Johanna aus vollem Herzen zurück und auch die Mädchen nahmen den Gruß an die Götter mit absoluter Selbstverständlichkeit auf - sie kannten die Worte von Johanna und den gemeinsamen Gebeten im Waisenhaus.


    Die Priesterin schnupperte genießerisch an ihrem Becher und nahm einen Schluck. Die Bitterkeit der Schokolade genoss sie sehr, wenngleich sie auch unerwartet kam. Die beiden Mädchen tranken ebenfalls. Girte rümpfte kurz die Nase nach dem ersten Schluck, doch dann schien sie dem Getränk eine zweite Chance geben zu wollen. Luisa ließ nicht erkennen, ob sie das Getränk mochte oder nicht. Sie trank einfach.

  • Mara-Katharina schaute über den Rand des Bechers und zog dann das Töpfchen mit dem Zucker heran. Sie schaufelte sich zwei gehäufte Löffel in ihren Becher und rührte.


    "Manche Erkenntnis ist bitter."


    sagte sie mit einem schelmischen Lächeln und schob aufmunternd nickend das Töpfchen in Richtung der Kinder.


    "Das heißt aber nicht, dass sie das bleiben muss."


    Sie nahm noch einen Schluck des Gebräus.

  • Girte nahm sich nur einen Löffel, sie schien die Bitterkeit zu mögen. Luisa hat Mara-Katharinas Verhalten genau beobachtet und nahm auch genau zwei Löffeln. Johanna verzichtete auf den Zucker und erkundigte sich stattdessen bei der Hausherrin:


    "Die Mädchen können sich nicht recht vorstellen, wie ihr neues tagtägliches Leben aussähe. Könntet Ihr ihnen ein wenig davon erzählen?"

  • Die Frau nickte der Priesterin zu.


    "Das kann ich wohl, aber vieles hängt auch davon ab, welche Talente ihr zeigt. Es gibt einige Dinge, die so weit es geht gemeinsam begangen werden und die so den Tag aufteilen. Wir stehen gemeinsam auf. Vor dem Frühstück gibt es zunächst eine Andacht. Danach gehen alle ihrer Arbeit nach bis zum Mittag. Da gibt es wieder eine Andacht vor der Mahlzeit. Ebenso verhält es sich mit dem Nachtmahl. Der eigentliche Dienst an der Herrin ist jedoch unsere Tagwerk."

    Sie schob den Stuhl zurück und erhob sich. Neben dem Kamin stand ein Regal, in dem Bücher lagen. Die dicken Bände lagen auf dem Buchrücken und standen nicht aufrecht. Sie suchte eins davon heraus und legte es auf den Tisch. Er hatte einen Ledereinband mit Punzierungen, die aufwendige Muster zeigten. Als sie vorsichtig den Deckel aufschlug, zeigte sich eine erste Seite, die in großen Lettern die Zeile "Codex provinciorum lib prim: Tempturia" zeigte. Die zweite Seite war eine Karte der Insel Magonien. Tempturien war deutlich hervorgehoben. Auf der nächsten Seite sah man die Provinz Tempturien bunt dargestellt mit Straßen, Flüssen, Bächen, Hügeln und Feldern. Auf den Straßen konnte man winzige Pferdegespanne sehen, auf den Feldern Arbeiter mit Sensen.


    "Das ist es was wir tun."


    sagte Mara-Katharina nicht ohne Stolz. Liebevoll strich sie über die Kante des Pergaments.


    "Wir sammeln Wissen. Wir bewahren es. Und wir geben es weiter auf diese Weise. Das ist unser Dienst. Die meisten der Frauen sind entweder Zeichnerinnen oder sie schreiben."


    Sie schlug eine weitere Seite auf, die eine sehr ebenmäßige Schrift zeigte, die nicht weniger kunstvoll war als die Zeichnung vorher.


    "Nur die wenigsten können beides wirklich. Unsere jungen Schwestern werden unterwiesen bis sie sich entscheiden, den einen oder anderen Weg zu gehen. Sie lernen mit diesen Kunstwerken umzugehen, sie mit eigenen Händen zu schaffen. Und da wir keine Dienerschaft haben lernen sie auch Dinge des Alltags, die ihnen nützlich sein werden, sollten sie den Orden irgendwann verlassen wollen."

  • Während Johanna sich interessiert vorgebeugt hatte, hatten sich die beiden Mädchen auf ihre Stühle gekniet, um das Buch eifrig zu betrachten.


    "Da komme ich her", sagte Girte ohne Scheu, als Tempturien gezeigt wurde und zeigte auf den Osten des Landes. "Das ist wirklich eine schöne Karte."


    Luisa hingegen schien von der Schrift angetan zu sein und ihre kleine Nase näherte sich dem Pergament, als sie versuchte zu lesen, was dort stand.

  • Mara-Katharina beugte sich ebenso über die Karte. Verblüfft schaute sie das Kind an.


    "Du kannst Karten lesen?"


    Nur die wenigsten ohne entsprechende Bildung hatten das Vermögen eine Karte dieses Ausmaßes auf die Wirklichkeit zu übertragen.


    "Woher genau? Ist der Ort verzeichnet?"


    Eine unauffällige Prüfung, ob das Kind die winzigen Buchstaben lesen konnte oder nur die Linien erkannt hatte. Luisa ließ sie zunächst die Zeit sich mit der Schrift auseinander zu setzen. Sie war schnörkellos und sehr ebenmäßig. Aber gerade das machte das Lesen teilweise schwierig, da die Buchstaben bei manchen Worten zu verschwimmen begannen.

  • Girte nickte eifrig, wenngleich Maras Ausruf sie für einen Moment verblüfft zu haben schien. Das hinderte sie jedoch nicht daran zu antworten und auf die Linie des Gebirges zu zeigen:


    "Ich erkenne das wieder. Und wie die Hauptstadt liegt."
    Leiser setzte sie hinzu, was fast trotzig klang:


    "Mein Papa hat ein Wirtshaus in Herdingen gehabt. Das ist an einer Handelsstraße nahe beim Gebirge. Und er hat Reisenden Karten verkauft. Keine so guten wie die hier. Aber angekommen sind sie immer!"


    Derweil begannen sich Luisas Lippen zu bewegen und wer sie beobachtete, konnte sehen, dass sie zu lesen begonnen hatte. Zwar stockte sie hin und wieder, aber das war wohl dem Schriftbild zu verdanken.

  • Die Frau legte Girte eine Hand auf den Arm.
    "Es ist eine Gabe, Karten lesen zu können. Eine, auf die du stolz sein und die du nutzen kannst."


    In ihrem Kopf entstand gerade die Vorstellung von einer Gruppe Kartographinnen. Bisher waren Karten nur Teil der Bücher und nie Selbstzweck. Aber eine eigene Abteilung für Karten? Nun ja, daran konnte sie frühestens in zehn Jahren denken. Sie wandte sich zu Luisa.


    "Das ist eine der Schriften, die man bei uns schreibt. Wir haben einige verschiedene."


    Sie schlug die Seite um und zeigte auf die neue Schriftart.


    "Diese Überschrift ist der Titel des neuen Kapitels. Und damit man es gut unterscheiden kann, ist es ganz anders geschrieben. Dann geht es normal weiter."


    Einige Augenblicke ließ sie Luisa Zeit die Seite zu betrachten, dann blätterte sie weiter hinter in das letzte Drittel des Buches.


    "Hier beginnt das Kapitel der Märchen. Die Geschichten eines Volkes erzählen viel über sein Wesen."


    An die Ränder hatte man einige Szenen aus dem Text gemalt.