Novigrader Gassen

  • "Nichts ist ewig", antwortete Rieke nüchtern. "Jeden Tag kann etwas geschehen, das aus dem Ewigen etwas endgültig Vergangenes macht. Ich schätze man sollte sich nicht selbst belügen, was das angeht. So lebt es sich besser."


    Mit dem Fingernagel tippte sie gegen das Glas der Sanduhr. Auch wenn es wohl dazu gedacht war, die Zeit zu überwachen, passte die Geste seltsamerweise genau zu dem Thema, über das sie gesprochen hatten.


    "Was ja nicht heißt, daß man das, was man hat, nicht wertschätzen sollte." Rieke hob die Schultern und schüttelte den Kopf. "Tut mir Leid für Dich. Manchmal ist ein Ende besser, als sich jahrelang mit diffuser Hoffnung durchs Leben zu schleppen, dass alles besser wird. Und apropos besser - was machen die Entzugserscheinungen?"

  • Vladim hatte immer noch die Augen geschlossen.


    "Besser. Oder vielmehr nichts im Augenblick." Leise raschelte er mit den Ketten, als er sich wieder bequemer hinlegte.

    "Mir ist schon klar, dass nichts für die Ewigkeit ist. Aber es wäre halt schön gewesen zumindest ein paar duzend Jahre so etwas, wie ein gemeinsames Leben zu haben. Egal - reden wir nicht von meiner Unfähigkeit Frauen an meiner Seite zu halten."

    Der Hexer räusperte sich und fragte dann: "Oxenfurt sagst du? Wie ist es dort? Ähnlich wie hier in Novigrad?"

  • "Wenn man die Oberfläche sieht - ganz anders", nahm Rieke den Faden bereitwillig auf. Was sollte sie auch zu Vladims Selbstmitleid sagen? Sie hatte mit sich selbst genug zu tun. "Die Universität zieht Gelehrte und Künstler des ganzen Kontinents an. Die Gassen sind sauber, die Häuser prächtig und die meisten Menschen gut gekleidet. Wenn man aber tiefer blickt, ist es genau das Gleiche wie hier. Niemand will Armut oder Elend ins Gesicht schauen. Die Hälfte der Universität ist entweder berauscht oder unfähig, aber dank genügend finanzieller Mittel an den Platz bekommen, an dem sie sich heute befinden. Es ist eine Stadt der Blender. Als würde man einen seidenen Rock tragen, sich aber darunter niemals waschen."


    Sie zuckte erneut mit den Schultern.


    "Wer wirklich klug ist, profitiert von dem schönen Schein. Für einen Hexer vermutlich eine lohnende Umgebung für die schnelle Münze."

  • Nun hob der Hexer seinerseits die Schultern, immer noch mit geschlossenen Augen.

    "Mag sein, aber auf Dauer nervt es, der Spielball der Mächtigen zu sein, der ständig durch den Dreck und die Fäkalien der Armen kriechen muss. Dennoch - klingende Münzen müssen her, sonst kann ich dich nicht bezahlen."

    Damit legte er sich so, dass er Rieke den Rücken zudrehte.

    "Wenn du nichts dagegen hast, dann schlafe ich jetzt etwas. Habe am Besten Fisstech oder Derivat bereit, wenn ich aufwache."

    Damit konnte man von Vladims Ecke bald nur noch gleichmässige Atemzüge hören.

  • Rieke nickte, aber das konnte Vladim nicht sehen. Das Klirren von Bechergläsern begleitete ihn in den Schlaf.


    Die Alchemistin wusste natürlich, dass Schlaf ihre Ergebnisse verfälschen konnte, aber sie brachte es nicht über sich, den Hexer deswegen wach zu halten. Also bereitete sie seine Dosis Derivat auf einem Tellerchen zu und das Fisstech in kleinerer Dosis auf einem Weiteren, falls das Derivat nicht anschlagen sollte.


    Den Schürhaken legte sie auch bereit, bevor sie sich wieder an die Analyse von Vladims Blut machte. Nachdem die Stunde vergangen war, nahm sie den Schürhaken und das Derivat - sie hatte es heimlich "Mondschein" getauft - und stubste den Hexer aus sicherer Entfernung mit dem kalten Eisen an, um ihn zu wecken.

  • Zuerst rührte sich Vladim gar nicht, aber auf wiederholtes Piecken mit dem Schürhaken kam ein Knurren und Brummen von ihm. Wieder rasselten die Ketten und langsam kam der Löwe aus dem Schlaf und rieb sich umständlich die Augen, wobei er sich langsam umsah, so als wisse er gerade nicht, wo er war.

    Dann ging alles ganz schnell. Der Hexer setzte sich schlagartig auf und riß an den Ketten, während sein Gesicht im Augenblick eines Wimpernschlages veränderte und zu der Fratze aus Hass, Wut und Brutalität wurde. Fast hätte Vladim beim schnellen Aufsetzen die Schale mit Mondschein umgestoßen, aber Rieke hatte Glück und musste nicht noch einmal näher an den Mutanten heran.

    Vladims Blick glitt suchend nach Fisstech umher, während er knurrte, grunzte und seltsame Töne ausstieß, die eher an ein großes Tier auf der Jagd erinnerten, als ein denkendes Wesen. Als der wütende Hexer den Fisstech nicht fand, schrie er danach und dabei flogen Spuckefäden aus seinem Mund in Richtung Rieke.

    Auf ihren Hinweis hin, blickte er auf das Derivat und bevor er es konsumierte, untersuchte er die Schale mit Mondschein. Es war mehr ein Schnüffeln und vorsichtig tauchte er einen Finger ein, um ihn schnell abzulecken. Dann stürtzte er den Mondschein herab.


    Mit angehaltenem Atem konnte Rieke sehen, wie Vladim von jetzt auf gleich wieder eine Transformation durchlief. Sein Gesicht erschlaffte und mit einem röchelndem Laut fiel er auf die Seite, die Augen in den Höhlen nach hinten gedreht.

  • "Hm", machte Rieke. "Interessant."


    Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und machte sich Notizen, die Sanduhr wieder umdrehend, um abzuschätzen, wie lange der Hexer bewusstlos bleiben würde. Sie kannte sich eh wenig mit Medizin aus, daher würde sie nicht helfen können, wenn er seine eigene Zunge verschluckte oder im Wahn abbiss.


    Solange er keine Anzeichen des Erstickens oder starkes Krampfen zeigte, lief noch alles innerhalb normaler Parameter.


    Sie legte den Federkiel nieder und holte sich ihren Hocker, um sich knapp außer Vladims Reichweite darauf niederzulassen und ihn hin und wieder mit dem Schürhaken anzuschubsen.

  • Es dauerte sicherlich eine Viertelstunde und viele Stubser, bis Vladim sich erstmal regte. Es war mehr ein Stöhnen und dann Kettenrasseln, als der Hexer zu sich kam. Es dauerte sicherlich weitere fünf Augenblicke, bis der Mutant seine Augen aufschlug und irgendwie unfokussiert durch die Gegend glotzte. Selbst auf Ansprechen mit seinem Namen schien der Löwe nicht wirklich zu reagieren. Vermutlich war die Dosis an Mondschein zu hoch gewesen oder das Derivat hatte zu gut funktioniert.

    "Wasser." krächzte der Hexer irgendwann und versuchte müde seine Augen auf Rieke zu fokussieren. Als sie ihm per Schürhaken etwas Wasser zu Trinken gab, stürtzte der Hexer das kühle Nass förmlich herunter. Dann hielt er sich die Schläfen, so als wenn das Wasser Kopfschmerz verursacht hätte.

    "Verdammt, was hast du mir gegeben?" stammelte der Mutant ein wenig schläfrig. "Das Zeug wirkt, als wenn mich ein gepanzertes Pferd im vollen Gallopp umgerieten hätte." Vladims Aussprache wurde mit jedem Wort etwas genauer, aber er hielt sich immer noch den Kopf.

  • "Nun ja, offenbar war die Dosis des Derivats zu hoch." Rieke ging zum Arbeitstisch zurück und machte sich erneut Notizen. "Ich habe dem Derivat ein Fünftel Albedo zugegeben. 5 Gramm reines Fisstech versus das Derivat- interessant."


    Sie schrieb weiter.


    "Symptome?", erkundigte sie sich und drehte sie Sanduhr. "Mal sehen, wie lang das vorhält."

  • "Symptome? Verarscht du mich? Siehst doch, wie ich hier hänge." polterte der Hexer und rasselte wieder mit den Ketten, als er seine Arme las Beweis hob und wieder in seinen Schoß fallen ließ.

    Vladim schüttelte den Kopf und schnaubte die Luft erbost aus. Dann räusperte sich und sagte mit normaler Stimme:
    "Ohnmacht, Schläfrigkeit und Kopfschmerz. Dazu Schwindel und Einschränkungen bei der Wahrnehmung."

    Dann versuchte er mit verschränkten Armen sich wieder an die Steinwand zu setzen. Aber es gelang ihm eher schlecht als recht.

  • "Danke", nickte Rieke, äußerst höflich. Zugegebenermaßen schien sie mehr Interesse am Ausgang des Experiments denn an Vladims Wohlergehen zu haben. Aber vielleicht täuschte das auch und sie verbarg ihre Sorge. "Wir werden jetzt wieder den gleichen Zeitraum wählen, der zwischen der Gabe des Fisstechs und des Derivats vergangen ist. Dann werden wir sehen, wie es sich mit der Wirkdauer dieser Dosis des Derivats verhält."


    Sie tippte mit der Schreibfeder ans Uhrenglas.


    "Wir werden noch einige Durchgänge machen müssen. Die Dosis des Derivats verkleinern und dann den Anteil des Albedo. Soll ich Dir eine Decke auf den Boden legen?"

  • Immer noch rutschte der Hexer auf dem kalten Steinboden herum und nickte dann.
    "Ja, bitte, das wäre nett."

    Damit stand er auf und wartete bis Rieke ihm die Decke zugeworfen hatte. Diese schlug Vladim dann doppelt und setzte sich darauf.

    "Das ganze Prozedere kann ja noch ein wenig dauern. Wenn du magst, kann ich dir die Rezepte meiner Tränke zeigen. Aber denk daran, ich habe zwar die Zusammensetzung aber die Dosierung fehlt vollends. Da müssen wir uns ebenfalls herantasten. Ein paar wenige Zutaten habe ich auch noch."

  • "Gerne", nickte die Alchemistin. Sie warf Vladim einen grüblerischen Blick zu. "Kannst Du mir die Rezepte aufschreiben und geht das nicht mit den Fesseln? Naja, notfalls kannst Du es mir auch diktieren."


    Auf der anderen Seite der Tür näherten sich leise Schritte. Rieke erstarrte kurz und lauschte, doch als es zweimal klopfte - und dann noch viermal - entspannten sich ihre Gesichtszüge.


    Sie ging zu einem Regal, fischte etwas Geld aus einer Schatulle und schob es durch einen Spalt unter der Tür hindurch. Für einen Moment sah man zwei kleine, dreckige Finger, dann entfernten sich die Schritte so schnell, wie sie gekommen waren


    "Das Essen ist da", verkündete sie und öffnete schließlich umständlich, um einen Sack hereinzuholen. "Jonna hat eine kleine Armee von Enkelkindern. Die sind äußerst hilfreich."


    Die Alchemistin richtete zwei Teller, für sich und Vladim, mit Brot, kaltem Braten und Ziegenkäse, dann schon sie dem Hexer das Mahl hin.

  • Allein der Geruch des Essens stieg Vladim schon in die Nase, da hatte Rieke die Türe noch nicht aufgemacht. Unüberhörbar konnte die Gelehrte das Magenknurren des Hexers wahrnehmen.

    "Ich kann dir das gerne diktieren, aber mein Buch, wo das drin steht, liegt in deiner Schlafkammer."


    Der Blick des Löwen ging immer wieder in Richtung des Essens, dass Rieke ihm per Schürhaken zukommen ließ. Es dauerte keinen Wimpernschlag und Vladim biß ins Brot, um danach ein Stück Käse zu essen. Von der Ferne betrachtet war, es schon so, als wenn eine große Katze sich über ihre Beute hermachte. Gierig und hungrig verschlang Vladim Bissen um Bissen von dem Braten.

    Er wischte sich mit dem Ärmel den Mund ab und sah dann wieder zur Alchemistin hinüber.

    "Wein, war nicht zufällig dabei oder? Oder vielleicht hast du noch etwas von dem Gewürzwein."

  • Rieke aß selbst erst einmal. Sehr manierlich, inklusive eines Leinentüchleins, mit dem sie sich den Mund abtupfte.


    Die Sanduhr rieselte unterdes weiter. Eine halbe Stunde war vergangen und sie war mehr als gespannt, wie Vladim auf das Derivat ansprechen würde.


    Danach ging sie Vladims Buch holen und hielt es erst einmal fest, bevor sie es ihm hinhielt.


    "Ich will nicht unbedingt etwas Persönliches lesen, das Du darin verewigt hast. Aber wenn Su nichts dagegen hast, schreibe ich es mir selbst ab, ich brauche nur die Seitenzahl."

  • Der Hexer knurrte sein Einverständnis. Er saß immer noch in den Krümeln des Essens und hatte sich den Mund ausgiebig an seinem Gambeson abgewischt.

    "Das Buch hat aber keine Seitenzahlen. Aber ich zeige dir, ab wo du abschreiben darfst." Damit hielt er die Hände hin, so dass die Eisen wieder rasselten.


    Nachdem Rieke ihm das Buch gegeben hatte, schaute er kurz nach und steckte einen der Briefe als Markierung in seine handschriftlichen Notizen. Es wäre sicherlich nicht falsch das Buch einmal zu erneuern. Es hatte schon Wasser, Blut und Mordäxte gesehen und sah entsprechend zerrupft aus. Die Seiten waren voller Eselsohren und der Löwenkopf auf der Vorderseite sah abgegriffen und alt aus. Damit gab er Rieke das Buch zurück.

    "Ist mein gesammeltes Wissen drin, allerdings hat das wenig mit den Dingen zu tun, die man in dieser Welt findet. Bin ja schon was herumgekommen und auch wenn die Namen ähnlich oder gleich sind, so unterscheiden sich die verschiedenen jagbaren Monster schon ziemlich."

  • "Und das darf ich mir auch ansehen?", erkundigte sich die Alchemistin und warf ihm einen fragenden Blick zu. "Ich muss zugeben, dass ich ein wenig neugierig auf Dein Geschäft bin."


    Sie setzte sich hin, anmutig trotz ihres kräftigen Körpers.


    "Du hast erwähnt, dass Hexer sehr alt werden. Also, ich vermute, sie werden alt, wenn sie nicht gerade von einem Monster zerfleischt werden? An sich ist das ja eine kluge Sache. Monsterjäger werden alt und stärker belastbar als normale Menschen. Welche Deiner Körperfunktionen wurden noch verbessert? Schnelleres Knochenwachstum? Nachtsicht?"

  • Der Hexer brummte sein Einverständnis und nickte mit dem Kopf.

    "Sicher, schau es dir an. Sind nur ein paar kurze Notizen."

    Dann rutschte er wieder hin und her und fand endlich eine Sitzposition, wo er bequem den Kopf in eine Nische zwischen zwei Mauersteinen ablegen konnte, die als Kissen dienen mochte.

    "Was den Rest über das Hexerdasein angeht - hast ja mein Blut, finde es heraus." Dabei grinste er, denn solche Dinge waren vermutlich fast unmöglich. Wobei...

    "Das hängt von der Art und Weise der Kräuterprobe ab, die man uns verabreicht. Aber ja, Heilung und verbesserte Nachtsicht ist eine der Verbesserungen. Und ja, wir werden alt. Dem Ältesten von dem ich gehört habe ist 140 Jahre jung. Aber persönlich getroffen habe ich ihn nicht."

  • "Und die Kräuterproben variieren zwischen den verschiedenen Arten der Hexer, korrekt?" Rieke blätterte durch das Buch. "Es gibt ja meinem Wissen nach nicht nur Löwen, sondern auch Wölfe und Katzenhexer."


    Sie neigte leicht den Kopf.


    "Wieso kannst Du nicht zaubern? Wie nennst Du das? 'Zeichen' wirken?"

  • Der Hexer brummte wieder seine Zustimmung, bevor er Rieke antwortete.


    "Ganz einfach - mein Lehrmeister starb, bevor wir dazu gekommen sind. Ich weiß allerdings auch nicht so recht, ob ich überhaupt fähig bin, Zeichen zu wirken. Aber - ich habe mir auf Siofra einen Lehrmeister genommen, der es mir hoffentlich beibringt."


    Dabei dachte er wieder an Lado und Malva und schüttelte mit einem wehmütigen Lächeln den Kopf, als er an ihre "Verbindung" dachte.


    "Albarad - mein Lehrmeister - war ziemlich bewandert in Alchemie, dennoch brachte er mir nur die Grundzüge bei. Warum, weiß ich allerdings nicht. Genauso wie die Hexerzeichen. Vielleicht habe ich einfach keine Affinität zur Magie."

    Damit hob er die Schultern, um zu signalisieren, dass er keine Ahnung hatte.

    "Andere Hexer habe ich erst vor etwas mehr als zehn Jahren kennengelernt und davon erfahren, dass es andere Schulen gibt. Das war mir nicht direkt bewusst."