Die Taverne "Zum Zaunkönig" (9)

Eine ganze Weile muß sie dort warten bis Kassandra aus dem Obergeschoß kommt und sich neben dem Kamin fallen läßt.
Sie begutachtet den Portwein und ein glückliches Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus.

Alanis klappte ihr Buch zu - 'Das Innere des Menschen' sagte der mit großen Goldlettern aufgedruckte Titel - und lächelte Kassandra offen an.

"Wohl bekommts", wünschte sie und nahm ihren eigenen Becher zur Hand. "Auf die Sesshaftigkeit - und all ihre Vorteile und Nachteile."

"Ach, vergiß die Seßhaftigkeit", antwortet Kassandra und stößt trotzdem mit Alanis an.
"Das ist doch nix für uns... Lernst du?", fragt sie dann mit Blick auf den Titel des Buches.

Alanis nickte und ihre Finger fuhren kurz fast liebevoll über den Buchrücken, bevor sie das Werk auf die Kaminumrandung legte, weit genug weg von den Flammen.

"Cornelius hat mir angedroht, dass ich ihm im Frühjahr die Meisterheilerprüfung abnehmen soll - also, was immer auch ein Meisterheiler ist."

Sie grinste kurz.

"Außerdem habe ich dieses Jahr in zwei großen Lazaretten gearbeitet, aber fast nur als Leiterin und nicht am Mann. Da muss ich am Ball bleiben, wenn ich demnächst mal wieder richtig arbeiten möchte."

"Cornelius..." Kassandra schüttelt den Kopf und schmunzelt. Wofür genau der jetzt diese Prüfung und den Titel braucht versteht sie nicht und findet es auch müßig danach zu fragen.
"Und du meinst tatsächlich dur vergißt sowas wenn du nicht ab und zu mal nachliest?"
Sie nippt am Port.

"Ich bin in letzter Zeit wirklich ein wenig vergesslich geworden", gab Alanis zu und lächelte so, als täte es ihr eigentlich gar nicht Leid. Tatsächlich strahlte Alanis eine gewisse Ruhe aus, an der es ihr in den letzten zwei Jahren oft gefehlt hatte. "Es gab soviel anderes, das mir durch den Kopf gegangen ist, dass die Medizin ein wenig zu kurz gekommen ist. Aber jetzt, da der Herbst kommt und das Reisen für ein paar Monate aufhören wird, habe ich endlich wieder die Zeit."

Sie nahm einen Schluck Wein und nickte anerkennend vor sich hin. Wirklich, ein guter Tropfen.

"Da wird beim Vergessen sind, kommen wir also wieder auf Tear zurück. Du glaubst, dass sie sich übernehmen wird an dem, was sie vorhat?"

Kassandra schaut einen Augenblick länger in ihren Port.
"Ja, das glaube ich", antwortet sie dann. "Ich... weiß gar nicht mehr wann sie angefangen hat sich mit den Alten anzulegen. Ich dachte erst, es sei gewesen als sie in die Bibliothek einbrechen wollte und die Ältesten zur Rede stellen, weil sie sich geflissentlich aus dem Krieg raushalten. Aber ich glaube es war schon vorher. Als... wer auch immer... diesen Seelenpanzer überflüssig gemacht hatte... Sie ist nach jedem Kontakt weniger sie selbst... Ich glaube nicht daß sie ihnen ernsthaft etwas entgegenzusetzen hat."

"Aber zurückzustecken und die Antworten nicht zu erhalten, die sie sucht - das wäre auch nicht sie selbst", gab Alanis nach einem Moment zurück und seufzte dann. Ihre Stimme klang sanft, aber es lag ein gewisser Fatalismus darin. "Ich hoffe, dass wir sie noch einmal wiedersehen werden."

Kassandra seufzt.
"Nein, wäre es wohl nicht. Dazu ist sie zu dickköpfig. Vielleicht sollte man diesen Wesen mal sagen, daß es keine gute Idee ist, ihr jedes Mal die Erinnerung an ihr Scheitern zu nehmen." Sie trinkt noch einen Schluck Port. "Andererseits würde sie es wohl auch dann wieder versuchen... Sie war sich selber nicht sicher ob wir sie wiedersehen."

"Diese Wesen zu besuchen würde vermutlich mit einem Besuch in Daynon zusammenfallen. Daher fällt das für mich wohl raus", gab Alanis zurück und ließ dann die letzten Worte, die von Kassandras Seite gekommen waren, auf sich wirken. "Ich hätte mich gerne verabschiedet", meinte sie dann leise und preßte die Lippen zusammen.

"Ich glaube das wollte sie vermeiden." Kassandra schaut in die Flammen.
"Sie ist nicht der Typ für Abschiede... Und an diese Wesen kämen wir auf 20 Meilen nicht heran. Wir sind Menschen. Wiederwärtige... schmutzige... bäumeverbrennende... Würmer. Schon allein durch unsere Anwesenheit besudeln wir ihren Wald."
Sie grinst ohne Fröhlichkeit.
"Sie hatte dieses... Als wir uns unterhalten haben, einmal, über diese Dinge die in ihrem Gedächtnis fehlen... sie wurde ganz still und auf einmal war es als könnte sie meine Anwesenheit kaum ertragen. Als... hätten sie etwas zurückgelassen, in ihrem Geist."
Sie schaut Alanis Verständnis heischend an.
"Ich war echt versucht, auszuprobieren wie nahe ich diesem... kommen muß damit es platzt."

"Manchmal würde es sich sehr gut anfühlen, ein paar Fressen zu polieren", gab Alanis zu und blickte in ihren Portwein. Schon halb leer. Sie füllte nach. "Aber dann erkennt man, dass man vernünftig und realistisch bleiben muss und ist dann für den Rest der Zeit unzufrieden mit sich."

"Unzufrieden. Aber am Leben." Kassandra hält Alanis ihr Glas zum Nachfüllen hin.
"Aber manchmal würde ich wirklich gerne..."

"Oh, glaub mir... ." Alanis füllte Kassandras Becher wieder bis zum Rand und verzog ironisch den Mund. "Hin und wieder habe ich Lust, einen Weltenbrand herbeizubeten, um alles, was mir nicht passt, zu beseitigen. Aber am Ende muss ich dann erkennen, dass das nicht die Lösung ist. Sondern Teil des Problems."

Kassandra nickt nur und trinkt ihren Port.

Eine Weile schweigen beide.
"Und sonst so?", fragt Kassandra als die Stille zu dicht zu werden droht.
"Irgendwelche Neuigkeiten in Renascan? Intrigen? Komplotte? Welteroberungspläne?"

Alanis blinzelte, als Kassandra sie wieder ansprach.

"Oh, ich -." Sie sah sich über die Schulter um. "Die Sache, über die wir bei unserem letzten Treffen gesprochen hatten, hat sich zum Glück erledigt. Der Präfekt macht einen langen Urlaub auf der Heimatinsel. Das Hospital ist wieder geöffnet und ich arbeite wieder da."

"Ach?", macht Kassandra interessiert. "Und die Seuche ist unter Kontrolle?"

"Ja, ist sie", bestätigte Alanis und lächelte erleichtert, wenngleich auch etwas verzerrt. "Es gibt eine zweite Form der Krankheit in Magonien, die eine etwas harmlosere Unterform darstellt und die nicht zu Löchern im Gehirn führt."

Sie nahm noch einen Schluck Portwein und schaffte es dann, sich damit zu bekleckern.

"Mist." Sie langte in ihre Tasche und brachte ein Taschentuch zutage, mit dem sie das grüne Kleid abtupfte. "Du kannst Dir vorstellen, dass diese Sache die pure Hölle war. Danach bin ich erstmal ein wenig durch die Gegend gereist. Unter anderem in die Drachenlande."

Kassandra kennt sich eher schlecht als recht mit Krankheiten aus, zumal mit solchen delikaten, und nimmt die Information über die leichtere magonische Variante der Seuche so hin.
"Ja, kann ich mir vorstellen", sagt sie mitfühlend. "Hab ich ja gesehen. Was läuft so in den Drachenlanden?"