Der Dorfplatz von Renascân (3)

  • "Oh Junge, nein..." stöhnte eine Mutter.


    Ein paar Meter von ihr entfernt saß ein kleiner Bub im Schnee und stopfte sich das weiße Zeug mit vollen Händen in den Mund. Weiß? Ups.. war da nicht auch... was gelbes dabei gewesen?


    "Aber Brian." sagte die Frau und hob den Jungen auf. "Du weißt doch, dass du den gelben Schnee nicht essen sollst." tadelte sie sanft und klopfte dem Kind den Schnee von der Kleidung.


    Der Bub strahlte sie aus blauen Augen an und grinste, so dass man ihm einfach nicht böse sein konnte. Er zeigte auf etwas hinter seiner Mutter und kommentierte es mit den Worten "Mwamba dada."

  • Lene kam gerade aus der Gasse, die in die Unterstadt führte und trug einen leeren Eimer, den sie am Brunne füllen wollte.


    Da sah sie Isabell, die mit Thesites sprach.


    So ein junges Ding und Thesites? Das ist ja SKANDALÖÖÖÖS!, dachte sie und schlenderte wie zufällig in jene Richtung.


    Viel zu lange war es schon her, dass es einen Skandal in Renescân gegeben hatte, den sie, Lene, aufgeklärt hatte. Die Zeiten waren hart. Aber jetzt bot sich möglicherweise eine neue Gelegenheit...


    Thesites hatte nur Augen für das junge Ding. Er schien es mit den Augen verschlingen zu wollen. Lene kam noch etwas näher. Da hörte sie es deutlich:


    Thesites fragte gerade "Wat NIRO?"


    Das Mädchen hat Thesites nach Niro gefragt! SKANDALÖÖÖS![I], dachte Lene und sie war sofort wieder in ihrem Element. Leider war sie nicht nah genug, aber trotzdem konnte sie aus den Wortfetzen den Inhalt des Gesprächs erschließen und ihr skandalgeschultes Gehirn ergänzte automatisch:


    "Dem Niro - Schätzchen - kann niemand das Wasser reichen"


    "Selbst für Gerion uind Damorg, die einen komischen Geschmack haben..."


    Hatte Lene es nicht schon immer gewusst! Gerade die, die unschuldig oder heilig tun, haben am meisten Dreck am Stecken! SKANDALÖÖÖÖS!!!


    "... schafft er es immer Mädchen zu besorgen..."


    Lene wurde rot, als sie die nächsten Worte hörte:


    "... die sie so zum Spass... ablecken von außen und innen! Die besorgen es auf Kniehöhe. Ansonsten gibt es Prügel oder es gibt einen Dolch in den Bauch. Dann bist Du tot. Auch die Merquatorez-Schwestern bringt er dazu rumzuhoppeln..."


    SKANDALÖÖÖS und skrupellos, diese Niro. Geht über Leichen!!!


    Lene zitterte vor Aufregung. Endlich mal wieder ein ausgewachsener Skandal! Sie beschloss dem Mädchen heimlich zu folgen, als Isabell den Dorfplatz wieder verließ.

  • Als Gerion den Brief entfaltete, erblickte er eine feine, etwas wackelige Schrift:




    Lieber Gerion,


    ich hoffe, dir geht es gut. Ich möchte dir mitteilen, dass ich jetzt weiß, wo mein Platz ist. Ich danke dir nochmals für alles, was du für mich getan hast. So schwer es manchmal auch sein mag, lasse nie davon ab, anderen deine Güte zu schenken. So wie es gekommen ist, ist es gut. Ich werde dich in meine Gebete einschließen, die Götter mögen stets ihre schützenden Hände über dich halten, die Herrin Akestera möge dir stets beistehen.


    Leb wohl!
    Dein Freund Konrad Mühren



    Welle, des Windes lieblicher Buhler,
    Wind mischt vom Grund aus schäumende Wogen.
    Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser!
    Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind.


    Meer, ich wollte dich beschreiben
    doch da hatten deine Wellen schon
    meine Gedanken hinter den Horizont getragen
    ins erste Morgenlicht.


    So stehe ich hier, und schweige
    umgeben vom Rauschen und der Unendlichkeit
    des Augenblicks.


    Fortgehen, weil das Festland mich schnürt
    Aufbrechen, mit der Brandung neu ankommen
    fesselfrei!

  • Gerion schloss schmerzlich die Augen. Es konnte nur ein bedeuten, wenn ein Mann wie Konrad ihm soetwas schrieb.
    Doch der Schmerz drohte ihn nicht lange einzunebeln und in eine Leere zu stürzen, vielmehr spürte er eine Wut in sich aufkeimen. Eine Wut auf sich,seine hilflosigkeit, das grausame Schicksal das die Götter für diesen armen Mann bereit hielten. All das wollte ihn unedlich wütend machen.


    Er faltete den Brief und drückte ihn sich gegen die Brust. Und wie er es gewohnt war schluckte er alles runter was ihn an Empfindung zu überwältigen droht.


    Ohne auf seinen Weg zu achten lief er weiter, lies alle Eindrücke um sich herum verschwimmen. Und ohne es zu merken, zog es ihn Richtung Unterstadt und Meer.

  • <-- Haus der Merquatorez-Schwestern


    Nach Einbruch der Dunkelheit kam Niro mit zwei Frauen im Arm, aber ohne sein markentypisches Barett aus einer Gasse gerannt. Spitze Schreie hallten durch die Gasse, die sie verließen.


    In Niros Geist arbeitete es fieberhaft. Alles, was er so hastig geplant hatte war schief gegangen. Eigentlich wollte er ja nur den Merquatorez-Schwestern Isabell als seine angebliche Freundin vorführen. Aber natürlich hatte die das nicht davon abgehalten, ihn zu verfolgen. Und zu allem Unglück war auch noch Dolores aufgetaucht und regierte äußerst ungehalten auf Isabell.


    "Laya, warum hast Du mich so gestraft...", entfuhr es ihm in einem Seufzer.


    Er ließ beide Frauen los. Da bemerkte er, dass Isabell immer noch die Augen geschlossen hatte und das Gesicht verzog. Etwas stimmte definitiv nicht mit Ihr. Hatte sie Schmerzen?


    "Dolores, das ist Isabell. Isabell, falls Du mich hörst, das ist Dolores. Isabell, Dolores und ich werden Dich jetzt in den Zaunkönig bringen. Da kannst Du Dich ausruhen. Komm, Dolores, stütze sie mal auf der anderen Seite", sagte Niro.

  • Mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht reckte Hadra ihr Gesicht in die Sonne. Auf ihrem Schoß lag ihr Buch, in der Hand hielt sie einen Bleigriffel. Ihre Handschuhe lagen neben ihr, wie immer, wenn sie schrieb.
    Als Niro und seine Bande auf dem Dorfplatz erscheint, runzelt sie missmutig die Stirn und wendet ihr Gesicht dem Dreiergespann zu. Für einen kurzen Augenblick gibt sie sich dem verführerischen Gedanken hin, die drei mit einem wunderschönen, Ruhe schaffenden Feuerball einzuhüllen. Der Gedanke an den Geruch von verbranntem Haar und Fleisch, hält sie aber davon ab sich derart die gelobte Stille wieder zu beschaffen. Mit einem leisen Lächeln auf dem Gesicht betrachtet sie, wie die eine Frau schwankt, die andere an ihrem Mitstudenten zerrt und der ziemlich überfordert scheint.

  • Der Weg vom Hafen hinauf in die Stadt war für einen Mann, der Schmerzen hatte, eine Tortur. Liam knirschte leicht mit den Zähnen, als er etwas passierte, was verdächtig wie ein großer, steinerner Tempel aussah und maß das Gebäude mit einem kurzen Blick, bevor er endgültig auf den Platz trat.


    Was für ein winziger Ort. Es sah seiner ehemaligen Geliebten so gar nicht ähnlich, sich in einer Siedlung wie dieser niederzulassen. Aber die Jahren, die vergangen waren, hatten ja möglicherweise einige Dinge verändert.


    Er verschob den Riemen seines Seesacks ein wenig, weil er sich in seine verletzte Schulter schitt und blinzelte dann mit einem echten Lächeln in die Sonne, die noch niedrig über den kleinen Häusern stand. Unter seinem Gehrock aus Wolle war ihm warm geworden und er fragte sich, wo man in Renascân wohl unterkommen konnte. Sein Blick glitt über den Dorfplatz und blieb bei der schlanken, blonden Dame hängen, die dabei war, ein Trio offenkundig sturzbetrunkener Personen zu beobachten.

  • Neben Hadra auf der Bank stand ihre Tasche, daneben lag der Fächer. Sie warf noch einen Blick zu Niro, dann erregte eine Bewegung am Rande des Sichtfeldes ihre Aufmerksamkeit. Dort stand ein Mann, scheinbar ein Fremder, bepackt mit einem Seesack. Sie erwiderte kurz seinen Blick und wandte sich dann wieder ihrem Buch zu nur um eine komplette Passage als falsch zu markieren.

  • Ah, man hatte ihn bemerkt. Wie schön. Liam schmunzelte leicht. Er faßte den Griff seines Gehstockes fester und humpelte auf die Dame zu. Er mochte Frauen. Mal sehen, ob diese hier ihn mögen würde.


    Hätte er einen Hut gehabt, hätte er ihn gezogen, als er neben sie trat. So verneigte er sich lediglich kurz und nicht zu ehrerbietig. Sein Blick glitt über das Kleid, die Ringe, das Buch und vor allem den Fächer. Niederer Adel, schloss er. Oder Scriptora oder Magierin. Auf jeden Fall zugeknöpft bis zum Kragen.


    "Guten Tag", sagte er freundlich. "Ich weiß, dass die Studien schneller vorangingen, wenn man nicht gestört werden würde - dennoch würde ich mich freuen, wenn Ihr mir ein wenig Zeit schenkt."

  • Hadra hörte auf zu schreiben und sah zu dem Mann hoch, den Rücken fast unnatürlich gerade, wie es ihre Gewohnheit war. Ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Lippen.


    "Das habt Ihr gut erkannt. Aber da ich hier unter der Dorflinde sitze, diese dort..."


    Sie wies auf Niro und seinen Hofstaat.


    "... wenig ansprechbar erscheinen und ich sowieso aus der Konzentration gerissen bin, kann ich es Euch wohl kaum verübeln."

  • Liam folgte dem Fingerzeig und betrachtete sich die Gruppe noch einmal. Eine seiner dunklen Brauen hob sich ein wenig, als er zu der Dame zurückblickte.


    "Dann hoffe ich auf wenig Groll von Eurer Seite", gab er zurück und lächelte breit. "Auch, wenn ich mich bei Euch nach einer anderen Frau erkundigen muss."


    Er verlagerte sein Gewicht auf sein gesundes Bein und nahm den Spazierstock auf. Der Knauf glänzte golden in der Sonne und zwei rote Steine, die in den wie ein Fuchskopf gestalteten oberen Teil eingearbeitet waren, glommen für einen Moment auf.

  • "Wie überaus charmant."


    stellte Hadra fest. Ihrem Lächeln konnte man die leichte Enttäuschung, die immer einsetzte, wenn sie mal nicht die erste Geige spielte, nicht entnehmen.


    "Dann hoffe ich, dass ich Euch helfen kann. Um wen geht es denn?"


    Noch wusste sie noch nicht genau, was sie von diesem Mann halten sollte. Ob sich ein zweiter Blick lohnen würde.

  • "Charmant? Nicht wirklich. So leid es mir auch tut." Er sah ihr in die Augen und versuchte herauszufinden, welchen Eindruck er hinterlassen haben mochte. Er liebte Herausforderungen und vor allem Frauen, die so stachelig waren wie eine Distel. Sein Tonfall wirkte aufrecht entschuldigend. "Nun, ich bin auf der Suche nach der Elemente-Priesterin Alanis Tatius und ihrem - Ehemann."


    Letzteres war in nüchternem Tonfall vorgetragen, so als würde er versuchen, eine eher unangenehme Tatsache so belanglos wirken zu lassen wir nur irgends möglich.

  • "Tatius..."


    Hadra schaute einen Moment zu Boden, als würde sie nachdenken. In Wirklichkeit hatte sie sofort ein Gesicht vor Augen. Nur keins von ihrem Ehemann.


    "Ja, diese Dame wohnt hier. Wo genau, kann ich Euch leider nicht sagen. Nur ist mir von ihrem Angetrauten nichts bekannt. Zumindest wüsste ich nicht, wer das sein sollte. Aber man sollte sich auch nicht allzu sehr um das Leben anderer scheren, nicht wahr?"


    Wieder zuckte ein Mundwinkel hoch und ihre Augen blitzten amüsiert. Ihr war sehr bewusst, dass ihm bewusst sein musste, dass in einer solch kleinen Siedlung so gut wie gar nichts geheim blieb. Dass man sich nicht um die Angelegenheiten der anderen kümmerte, war nichts als eine lockere Fassade oder ein gut gemeinter Versuch. Es war durchaus interessant, dass die fremde Priesterin scheinbar verheiratet war oder es zumindest behauptete. Wieso sollte sie das tun? Um sich diesen Mann dort vom Hals zu halten? Was mochte er zu verbergen haben, dass man das wollte?

  • Liam überspielte sein Erstaunen mit einem nonchalanten Auflachen. Dennoch verengten sich seine blauen Augen kurz. Sie war also nicht verheiratet? Das kleine Miststück - und damit wußte er nicht ganz genau, welche der beiden Frauen er damit meinte.


    "Da habt Ihr sicherlich Recht. Denn wenn man es tut, dann müßte man sich vielleicht vorwerfen lassen, Spiele zu spielen und die Nase in Angelegenheiten zu stecken, die einen nichts angehen."


    Der unschuldige Ausdruck in seinen Augen, der sich eingestellt hatte, nachdem er sich gefasst hatte, hätte einen Säugling vor Neid erblassen lassen.


    "Verratet Ihr mir Euren Namen, meine Liebe?"


    Interessiert beobachtete er sein Gegenüber.

  • "Spiele? Das wäre... wenig schicklich, nicht wahr?"


    stellte Hadra fest und schenkte ihrem Gegenüber einen koketten Augenaufschlag. Er schien ein würdiger Gegner zu sein oder ein netter Zeitvertreib. Wie auch immer man das sehen mochte.


    "Ich bin Hadra aus dem Schwalbental."


    sagte sie und neigte leicht den Kopf. Sie blieb jedoch sitzen und reichte ihm auch nicht die Hand. Zumindest zweiteres konnte unverhofft schief gehen, zumal ihre Handschuhe neben ihr lagen.


    "Mit wem habe ich die Ehre?"

  • "Liam Kincaid. Ein bescheidener Reisender", kam es zurück, beinahe militärisch knapp, jedoch nicht unhöflich. Seine edle, wenn auch ein wenig abgeschabte Kleidung ließ darauf schließen, dass er keinesfalls bescheiden war - und auch das spöttische, sinnliche Lächeln in seinem Mundwinkel sprach ganz offen davon. Er deutete noch einmal eine Verneigung an. "Und ich bin der Meinung, dass Schicklichkeit ein hervorragender Vorhang ist, hinter dem man sich trefflich amüsieren kann."

  • "Es ist mir eine Freude, Liam Kincaid."


    Dann griff sie nach ihren Handschuhen und streifte sie sich wieder über die Hände.


    "Oh, Schicklichkeit ist viel mehr als das. Ist sie nicht eine Tugend, die jedem gut zu Gesicht steht, der etwas auf sich hält? Aber auch wenn sie in erster Linie als Tugend verstanden wird..."


    Sie sah kurz auf und suchte für einen Augenblick den Blickkontakt. Dann schob sie die roten Stulpen zurecht, die ihre Unterarme bis unter die Tunika bedeckten.


    "... kann sie durchaus auch als Vorhang dienen. Wenn man das denn möchte."

  • "Nicht jeder kann sich Tugenden leisten, werte Dame", gab er zurück und beobachtete ihre schlanken Finger, die nun wieder verdeckt wurden, für einen Moment lang sinnend. "Aber dies und die Frage, was man möchte -." Er ließ absichtlich einen Augenblick des Schweigens verstreichen. "Sind recht tiefgehend für ein Gespräch auf dem Dorfplatz, nicht wahr?"


    Das war eine Einladung - und er war gespannt, ob sie sie annehmen würde. Um sie nicht in die Verlegenheit einer sofortigen Anwort zu bringen, fragte er direkt danach:


    "Wer, meint Ihr, könnte wissen, wo die Dame wohnt?"