Im Hafen von Rendor II

  • "Wenn ich ehrlich bin, interessiert es mich nicht, Lady Marie," entgegnete die Kapitänin immer noch kühl.
    "Genauso wenig, wie es mich interessiert, ob Ihr Euch alleine im Hafen rumdrückt oder nicht. Ich weiß aber, dass Herr Bedevere dies nicht gut finden würde, also habe ich Euch eine Chance gelassen. Diese habt Ihr nicht genutzt. Und ich schätze es nicht, wenn man mich versucht zum Narren zu halten."
    Sie trieb Marie-Babette weiter an.
    "Mit Verlaub, werte Dame, bewegt Euch. Und spart Euch die Luft zum Laufen. Wir werden Euren Vater notfalls wecken lassen. Die ganzen Konsequenzen, die sich daraus ergeben... Ihr wußtest um diese, nun tragt sie."
    Sie sah Marie-Babette entschlossen und schien nicht zu weiteren Diskussionen bereit.

  • Marie resignierte. Das konnte ja etwas geben.


    Sie hatte ganz und gar keine Lust noch schneller zu gehen, als sie es ohnehin schon tat.


    Sie kamen zur Straße, in der ihr Haus stand. Vor der Tür hielt sie inne und drehte sich nochmal zur Frau Kapitänin.


    Doch diese sah sie noch immer kühl an.


    Hölle! Dabei wollte sie nur Clarisse helfen und war in dieser Situation. Ja, sie hatte sich das auch selbst eingebrockt, aber alles nur, um Clarisse ihr Erspartes zu geben, damit sie über die Runden kam. Sie gönnte ihrer Cousine die Freiheit...


    Freiheit... ach... warum war sie nicht als Mann geboren. Als Mann hatte man es soviel einfacher in der Welt. Es hätte niemanden gescherrt, wenn sie bzw. er alleine im Hafen herumgegangen wäre.

  • "Seid so gut, Lady Marie, läutet oder klopft an," meinte Kapitän Fernandez. "Und bevor irgendwelche Mißverständnisse aufkommen, ich werde hier warten, bis ich Euch Eurem Vater übergeben kann."
    Mißmutig sah die Kapitänin Marie-Babette an.

  • Marie seufzte. Sie würde nun nicht noch Öl ins Feuer gießen, wenn sie erwähnte, dass sie einen Schlüssel hatte...


    Also klopfte Marie vorsichtig an der Tür und starrte ängstlich die Tür an.


    Nach einiger Zeit öffnete ein sehr müde wirkende junge Magd.


    "Fräulein Marie?" sagte sie erstaunt und öffnete weit die Tür.


    "Anna, holtst Du bitte meinen Vater!?"


    Anna schaute über die Schulter ihrer jungen Herrin und krauste die Stirn.


    "Sicherlich? Er schläft bestimmt noch ganz tief und fest...," sagte diese vorsichtig.


    "Ja, bitte - es muss sein," sagte Marie zu ihr und schaute dann zu Frau Fernandez.


    Anna ging leise und doch schnell die Treppen hoch und klopfte am Schlafgemach ihres Herrn an...

  • Fanny war durch den Lärm wach geworden kam die Treppe hinunter. Sie sah Marie im Flur stehen. Hinter ihr eine Frau, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie runzelte die Stirn:


    "Marie, was ist denn passiert? Was machst Du so früh hier? Warst Du draußen, oder warum hast Du Deinen Mantel an?"


    Doch Marie kam gar nicht mehr zum antworten, denn ihr Vater kam gerade die Treppe herunter. Er hatte über sein Nachtgewand einen Morgenmantel gezogen. Er hatte noch immer seine Schlafmütze auf.


    Kurz vor ihr kam er zum stehen:


    "Marie, was ist hier los? Ich werde zu so früher Stunde geweckt - es ist ja fast noch Nacht! Und wieso hast Du Deinen Mantel an?"


    Er schaute an ihr vorbei und sah eine fremde Frau.


    "Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?!"


    Man sah ihm an, dass er sehr ungehalten war.

  • Marie schluckte mehrmals als sie ihren Vater die Treppe herunterkommen sah, aber der große Kloß im Hals wollte nicht vergehen. Ihr war schlecht... was sollte sie bloß sagen?


    'Die Wahrheit natürlich' meldete sich ihr Gewissen. Doch ihr Herz sagte ihr: 'Verschaff Clarisse Zeit'. Ihr kam es vor, als würden beide einen Kampf ausfechten und sie stand mitten drin. Warum war sie nicht im Kloster geblieben. Die Welt hier draußen war so kompliziert.

  • Kapitän Fernandez lüftete elegant ihren Dreispitz und verneigte sich.
    "Seid auch Ihr mir gegrüßt, Herr de Moriba", meinte die Frau mit leicht ironischen Unterton.
    "Ich wollte Euch nur ein kostbares Gut zurück bringen, da ich Eure Tochter mutterseelenalleine im Hafen aufgefunden habe. Nicht wirklich eine Gegend, wo sich eine Dame aufhalten sollte, findet Ihr nicht?"
    Sie setzte den Hut wieder auf ihr rabenschwarzes Haar.
    "Und da sie Euch ja offensichtlich abhanden gekommen war, dachte ich mir, ich tue Euch etwas Gutes und bringe sie wohl behalten zurück. Zumal sie ja auch Hinweise von mir, nach Hause zu gehen, ignoriert hatte."

  • Michael de Moriba wurde wütend.


    "Wie bitte? Im Hafen? Alleine? Marie!"


    Und schon klatschte eine Ohrfeige an Maries linke Wange... diese sah ihren Vater erschrocken an und hielt sich die Wange.


    "Verzeihen Sie, verehrte Dame. Ich danke für Ihre Fürsorge. Wenn ich noch Euren Namen erfahren dürfte..."


    Marie wollte an ihrem Vater vorbei nach oben, doch dieser sagte streng zu ihr:


    "Du wirst hier bleiben!"

  • *Klatsch


    Marie war geschockt. Ihr Vater hatte sie noch nicht geschlagen. Erschrocken schaute sie ihn mit großen Augen an und rieb sich die Wange.


    Sie wollte weg von ihm, doch dann hielt er sie zurück.


    Sie schaute verlegen zur Kapitänin... warum nur bekam sie jetzt alles ab, dabei war alles Clarisse's Schuld. Wäre sie nicht weggelaufen... wäre sie nicht so dumm gewesen, im Hafen nach ihr zu suchen... Ja - sie hatte selbst schuld, das wusste sie ja auch...

  • Mißbilligend sah die Kapitänin Maries Vater an.
    "Fernandez, Kapitän Fernandez, Herr de Morbiba."
    Und sie schaute ihn nun fest an.
    "Und es wundert mich nicht, dass Lady Marie alleine im Hafen sich aufgehalten hat."
    Sie zog wiederum ihren Hut und verneigte sich knapp.
    "Ich empfehle mich, da ich noch zu tun habe. Auf bald!"
    Und sie wandte sich zum Gehen um.

  • Michael de Moriba zog eine Braue hoch und ignorierte den zweiten Satz:


    "Ich danke Euch, Frau Fernandez, dass Ihr meine Tochter hergeleitet habt. Kann ich Euch im Gegenzug dafür etwas anbieten?"


    Fernandez, Fernandez - schoß es durch seinen Kopf. Wo hatte er diesen Namen schon einmal gehört? Ahhh!


    "Ihr seid die Kapitänin von dem Ritter Bedevere de Noyau-Guermont!" sagte er mehr feststellend als fragend, und musterte sie von unten bis oben genauer.


    Interessant - das war sie also. Und warum war ausgerechnet sie seiner Tochter im Hafen begegnet? Oder vielleicht war seine Tochter ja bei ihm gewesen? Wenn das wahr wäre, dann... Er musste seine Tochter gleich verhören. Wenn sie ein Techtelmechtel mit dem kaotischen Ritter hatte, dann würde er sie ganz gewiss nicht mit ihm fahren lassen - außer, er würde sich vorher erklären.

  • Die Tür schloss sich hinter der Frau.


    Fanny stellte sich neben Marie und streichelte ihren Rücken. Sie hatte noch nie gesehen, dass ihr Herr sich dermaßen vergass - gar, dass er seine Tochter geschlagen hätte.


    Der Hausherr sah Fanny an: "Fanny, ich wünsch alleine mit meiner Tochter zu sprechen. Du kannst gehen!"


    Dann sagte er zu seiner Tochter: "Und DU folgst mir in mein Arbeitszimmer!"


    Er drehte sich um und ging voran.


    Marie zog schnell den Mantel aus und übergab ihn ihrer alten Kinderfrau, die sie mitleidig ansah. Mit gesenktem Kopf ging sie ihrem Vater hinterher.


    Michael wartete schon ungeduldig in seinem Zimmer. Endlich trat seine Tochter ein. Er hatte erwartet, sie folge ihm gleich.


    "Nun! Ich will eine Erklärung - SOFORT! Warum treibst Du Dich um diese Zeit alleine im Hafen herum? Und das noch in der Nähe des Schiffes des Herrn Ritter. Willst Du mir das bitte erklären?!"

  • Marie's Kloß im Hals schien anzuwachsen... sie hatte das Gefühl, jemand drückte ihr den Hals zu.


    "Vater, ich - es tut mir leid... ich... also... ich war im Hafen, weil...," Marie unterbrach kurz, sah ihren Vater aber lieber nicht in die Augen, denn sie wusste, dass sein Blick auf ihr ruhte.


    Sie entschied sich, von vorn anzufangen:


    "Ich erwachte in der Nacht von einem Alptraum. Ich nächtigte im Gästezimmer, da Clarisse nach unserem Gespräch gestern Abend sehr schnell in ihr Zimmer gegangen war und ich dachte, sie wolle vielleicht ihre Ruhe haben. Ich stand also in der Nacht auf und es war so kalt im Zimmer... da bin ich rüber in mein altes Schlafgemach und da war Clarisse weg. Nur ein Brief lag dort..."


    Puhh... das war zwar ein wenig die Wahrheit beschönigt... sie würde nachher dafür beten und Buße tun.


    "Ich wollte das Haus nicht wecken - schon gar nicht Dich angesichts des Erlebtem am Abend zuvor - und habe mich deswegen angekleidet und bin Richtung Hafen, um sie zu suchen. Sie konnte ja schließlich nicht lange weg sein. Aber ich habe sie nicht gefunden. Dafür hat mich Frau Fernandez aufgegriffen. Sie sagte mir, ich solle lieber gleich nach Hause gehen. Doch ich schlug ihre Aufforderung in den Wind, weil ich Clarisse finden wollte. Ich weiß, das war sehr unüberlegt von mir, aber ich wollte doch, dass sie wieder nach Hause kommt... dann griff mich die Kapitänin ein weiteres Mal auf - sie war mir wohl gefolgt - und hat dann darauf bestanden, mich nach Hause zu bringen."


    Sie schaute vorsichtig zu ihrem Vater hoch.


    "Es tut mir wirklich leid, Vater. Ich wollte doch nur... Du solltest Dich doch nicht aufregen... ich...."

  • "Clarisse ist weggelaufen?! Wieso, ich meine warum? Ich verstehe das nicht! Und dann sagst Du nicht Bescheid!? Wir hätten sofort einen Suchtrupp in alle Richtungen losschicken können. Die Stadtwache hätte ebenfalls aktiviert werden müssen. Bei den Göttern! Wenn ihr was passiert!"


    Michael ging auf und ab:


    "Marie, das war alles sehr unvernünftig. Ich habe Dich für klüger gehalten. Deine Rücksicht auf mich in allen Ehren, aber das ging zu weit! Hast Du eine Ahnung, wo sie hingehen könnte? Kennt sie jemanden hier?"


    Doch seine Tochter schüttelte den Kopf.


    Michael forderte seine Tochter auf, ihm sofort den Brief zu bringen. Er hingegen weckte das Personal und dirigierte verschiedene Aufgaben an diese. Jemand wurde zur Stadtwache geschickt. Zudem ließ er seine Arbeiter holen, die den Suchtrupp bilden sollten.


    Er konnte den Männern nur eine Beschreibung seiner Nichte geben, denn er hatte noch nicht die Zeit gehabt, ein Porträt von ihr für die Familiengallerie fertigen zu lassen.


    Marie kam schnell wieder herunter und übergab ihm den Brief. Er ließ sich in den Sessel fallen und las diesen.

  • Dass die Kiste, die sich Clarisse als Nachtlager ausgesucht hat, mittlerweile an Bord eines Schiffes gebracht wurde, hat sie nicht bemerkt, so tief schläft sie. Und während der vermeintliche Wein sicher & ordentlich verstaut wird, ahnt niemand etwas von dem blinden Passagier.

  • Er schüttelte mehrmals den Kopf.


    "Ich verstehe das ganze nicht. Was meint sie damit?"


    Er sah Marie an, doch diese zog nur die Schultern hoch. Sie konnte sich schon vorstellen, warum Clarisse das getan hatte und warum sie es so meinte, doch wenn sie ihrem Vater die Sache erklären würde, würde es ihn nur sehr verletzen und das wollte sie nicht. Er hatte gerade genug Kummer.


    Michael stand auf.


    "Ich werde mich nun anziehen, um mit den anderen nach ihr zu suchen. Ich hoffe ja, dass sie nicht weit sein kann."


    Dann ging er an seiner Tochter vorbei, drehte sich aber nochmal zu ihr um:


    "Und Du, junge Dame! Du wirst jetzt nach oben gehen und dort warten, bis ich zurück bin. Du hast für den Rest des Tages Hausarrest. Wenn Flora nachher kommt, werdet Ihr beide von mir persönlich zum Hafen geleitet. Ich werde mit Herrn Bedevere reden müssen, gut auf Dich Acht zu geben, wenn Du nur noch solchen Unfug im Kopf hast. Ich bin wirklich enttäuscht von Dir!"


    Und damit ging er die Treppen hoch in sein Gemach, wo ihn seine Frau bereits erwartete und darauf, eine Erklärung von ihm zu bekommen, was denn passiert sei. Kurz und knapp erklärte er ihr alles.


    Isabell lachte innerlich. Es konnte ihr nur recht sein, wenn ihr Gatte auf seine Tochter böse war. Vielleicht könnte sie ihn noch etwas weiter bringen und ihr noch mehr misstrauen - ja! Vielleicht würde er sie ja enterben, wenn sie es nur richtig anstellen würde. Ein teuflischer kleiner Plan nahm Formen in ihrem Kopf an.

  • Marie schluckte schwer bei den Worten ihres Vaters. Sie hatte ihn enttäuscht... diese Worte hallten immer wieder in ihr. Enttäuscht - ja - aber doch nur, um einer anderen Person zu helfen.


    Mit hängendem Kopf ging sie in den Flur, wo aufgeregt Fanny wartete.


    Diese ging schnell zu ihrer Schutzbefohlenen und fragte: "Ist es wahr, Clarisse ist weg?"


    Marie nickte nur wortlos. Sie fühlte sich unendlich müde und erschöpft.


    "Fanny, ich möchte nun alleine sein. Ich gehe nach oben. Vielleicht könntest Du mir bitte heißes Wasser bringen lassen. Ich möchte mich waschen - nein, lieber baden. Wer weiß, wann ich das nächste Mal dazu kommen werde, wenn ich erst einmal am Bord der 'Nebelfalke' bin. Und neue Kleidung benötige ich auch. Lass doch bitte mein Reisekleid von meinem Heim holen, das grüne mit dem Karomuster..."


    Dann ging Marie nach oben. Am Treppenabsatz blieb sie stehen und schaute auf die zwei Türen. Sollte sie in ihr altes Schlafgemach gehen oder ins Gästezimmer? Ihr altes Schlafgemach hallte es in ihr.... alles hatte sich verändert. Dies war zwar ihr Zuhause, doch in einigen Stunden würde sie ihrem neuen Zuhause entgegenfahren. Sie hatte ihr Zimmer freudig Clarisse überlassen und die war nun nicht mehr da.


    Sie ging in ihr altes Zimmer und setzte sich auf das Bett.


    Sie dachte an Clarisse und was sie wohl jetzt tun würde - da draußen, ganz allein. Sie hoffte, dass ihr Vater sie nicht finden würde, denn sie wünschte ihr den Ärger einfach nicht. Sie wusste ja, wie streng ihr Vater war. Doch selbst sie hätte nicht gedacht, dass er sie jemals schlagen würde. Vorsichtig streichelte sie sich die Wange.


    Dann rutschte sie vom Bett ab und ging davor auf die Knie und betete. Sie hatte noch Buße zu tun... und sie betete wieder für den Schutz von Clarisse und ihrem Entkommen.

  • Michael war zu beschäftigt, sich anzukleiden, dass er den veränderten Gesichtsausdruck seiner Frau gar nicht bemerkte.


    Einige Augenblicke später ging er wieder hinunter, wo schon das männliche Personal versammelt war und hinaus, um Clarisse zu suchen.


    Stundenlang gingen sie jede Gasse, die hinaus aus der Stadt führte. Die meiste Zeit aber verbrachten sie im Hafen, da Marie dort aufgegriffen wurde und er den Verdacht hatte, dass Marie irgendetwas geahnt haben musste, warum sie hier nach ihr gesucht hatte. Doch je mehr Zeit verging, desto mutloser wurde er.


    Immer und immer wieder fragte er sich, warum seine Nicht weggelaufen war. Es war ihm ein richtiger Stich im Herz. Er hatte im Streit seine Schwester verloren. Sie war gestorben, bevor er sich mit ihr wieder versöhnen konnte. Als dann ihre Tochter vor ihm stand, dachte er, dass es ein Geschenk war, das ihm seine Schwester geschenkt hatte, als Zeichen ihrer Versöhnung. Dass Clarisse nun weg war gab ihm das Gefühl, er hätte wieder mal versagt und machte sich Vorwürfe. Er wollte sie doch nur behüten vor dieser kalten Welt. Rendor war klein, aber auch gefährlich für junge Damen. Er war reich und schon oft hatte man versucht, ihn zu erpressen. Der Höhepunkt dann vor über drei Jahren, als man ihm weismachen wollte, dass man seine Tochter entführt hatte.


    In der Ferne läutete Glocken zum zwölften Schlag. Es war bereits Mittag. Sie suchten seit fast sechs Stunden... Er ordnete im nächsten Rasthof eine Pause an. Seine Männer waren bestimmt ebenso erschöpft wie er und jeder musste sich kurz erholen und etwas zu sich nehmen.